Dieselskandal: Ein Hersteller darf keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen

Die Tatsache, dass eine solche Abschalteinrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern, kann ihr Vorhandensein nicht rechtfertigen.

Das Unternehmen X ist ein Automobilhersteller, der in Frankreich Kraftfahrzeuge vertreibt. Dieses Unternehmen soll Fahrzeuge mit einer Software auf den Markt gebracht haben, die geeignet ist, die Ergebnisse der Zulassungstests in Bezug auf Emissionen von Schadstoffen wie Stickoxiden (im Folgenden: NOx)zu verfälschen.

Infolge von Enthüllungen in der Presse leitete die Staatsanwaltschaft Paris (Frankreich) eine Untersuchung ein, aufgrund deren eszueinemErmittlungsverfahren gegen das Unternehmen X kam.

Die mutmaßliche Straftat soll darin bestehen, dass die Erwerber vonFahrzeugen mit Dieselmotoren über wesentliche Eigenschaften dieser Fahrzeuge und über die vor ihremInverkehrbringen durchgeführten Kontrollen getäuschtwurden.

Die fraglichen Fahrzeuge waren mit einem Ventil zur Abgasrückführung (AGR) ausgestattet. Das AGR-Ventil ist eine der Technologien, die von den Automobilherstellern zur Kontrolle und Verringerung der endgültigen NOx-Emissionen verwendet werden.

Es handelt sich um ein System, das darin besteht, einen Teil der Abgase von Verbrennungsmotoren zum Ansaugkrümmer, d.h. dorthin, wo die dem Motor zugeführte Frischluft eintritt, zurückzuführen, um die endgültigen NOx-Emissionen zu verringern.

Vor ihrem Inverkehrbringen wurden diese Fahrzeuge in einem Labor Zulassungstests nach einem anhand verschiedener technischer Parameter(Temperatur, Geschwindigkeit etc.) vordefinierten Zyklus (dem Neuen Europäischen Fahrzyklus, NEFZ) unterzogen.

Diese Tests dienen unter anderem dazu, dieHöhe derNOx-Emissionenund die Einhaltung der insoweit in derVerordnung Nr. 715/20071festgelegten Grenzwerte zu überprüfen.

Die Emissionen der fraglichen Fahrzeuge waren somit nicht unter realen Fahrbedingungen analysiertworden.Ein technisches Gutachten, das im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erstellt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass die fraglichen Fahrzeuge über eine Einrichtung verfügen, diees ermöglicht, die Phasen der Zulassungstestszu erkennen und infolgedessendie Funktion des AGR-Systems so anzupassen, dass die vorgeschriebene Emissionsobergrenze eingehalten wird.

Umgekehrt führt diese Einrichtung unter anderen Bedingungen als jenen der Zulassungstests, d.h. beim normalen Fahrbetrieb, zu einer (teilweisen) Deaktivierung des AGR-Systems unddamitzu einer Erhöhung der NOx-Emissionen.

Der Gutachter gab an, dass die Fahrzeuge erheblichweniger NOx erzeugt hätten, wenn das AGR-System bei realem Fahrbetrieb so funktioniert hätte wie bei den Zulassungstests. Bei diesen Fahrzeugen wären aber unter anderem aufgrund einer schnelleren Verschmutzung des Motors häufigereund kostspieligere Wartungsarbeiten angefallen.

Die Verordnung Nr. 715/2007 verbietet ausdrücklich die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen unter normalen Nutzungsbedingungen verringern.Das nationale Gericht hat beschlossen, den Gerichtshof anzurufen, um Klarstellungen insbesondere zur Definition und zur Tragweite der Begriffe„Emissionskontrollsystem“ und „Abschalteinrichtung“ zu erhalten.

In seinem heutigen Urteilführt der Gerichtshof aus, dass zunächst zu prüfen ist, ob eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein „Konstruktionsteil“ im Sinne der VerordnungNr. 715/2007 darstellt.

Der Begriff „Abschalteinrichtung“ wird in dieser Verordnung definiert als „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“.

Der Begriff „Konstruktionsteil“ wird in der Verordnungnicht definiert. Nach seinem üblichen Sinn bezeichnet dieser Begriff einen im Hinblick auf seine Einbeziehung in ein funktionales Ganzes hergestellten Gegenstand. Wie aus der Verordnunghervorgeht, bezeichnet der dort definierte Begriff der Abschalteinrichtung „ein“, d.h.jedes Konstruktionsteil.

Die Wirksamkeit der Entgiftung hängt mit der Öffnung des AGR-Ventils zusammen, das durch den Quellcode der in den Rechner integrierten Software gesteuert wird.

Da sie somit auf die Funktion des Emissionskontroll-systemseinwirkt und dessen Wirksamkeit verringert, handelt es sich bei einer in den Rechner zur Motorsteuerung integrierten Software wie der hier in Rede stehenden um ein „Konstruktionsteil“im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007.

Der Gerichtshof prüft sodann, ob die im AGR-System verwendete Technologie, bei der die Emissionen im Vorhinein, d.h.bei ihrer Entstehung im Motor selbst, verringertwerden, unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ im Sinne der Verordnungfällt.

In der Verordnungals solcher wird dieser Begriff nicht definiert, aber in ihrer Präambel heißt es, dass es angesichts des mit ihr angestrebten Ziels der Verringerung vonEmissionen erforderlichsei, Einrichtungen zur Messung und Kontrolle der bei der Nutzung eines Fahrzeugs auftretenden Emissionen vorzusehen. Ferner wird in der Verordnung das von den Herstellern zu erreichende Ziel einer Begrenzung der Auspuffemissionen festgelegt, ohne die Mittel zu seiner Erreichung näher anzugeben.

Sie sieht nämlich vor, dass die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssen, dass u.a. die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden.

Bei den Typgenehmigungenvon Kraftfahrzeugenwird die Höhe der Emissionen stets am Auslass des Auspuffs gemessen. Eine Differenzierung zwischen der Strategie,die Abgasemissionen nach ihrer Entstehung zu reduzieren, und der Strategie, mit der sie bei ihrer Entstehungbegrenzt werden sollen, kann deshalbnicht vorgenommen werden.

Aus der VerordnungNr. 715/2007 ergibt sich somit, dass der Begriff „Emissionskontrollsystem“ sowohl die Technologien und die im Motor der Fahrzeuge ansetzende Strategie zur Begrenzung von Emissionen umfasst als auch diejenigen, mit denen die Emissionen nach ihrer Entstehung verringert werden sollen.

Daraus ist zu schließen, dass sowohl die Technologien und die Strategie, mit denen die Emissionen im Nachhinein, d.h. nach ihrer Entstehung, verringert werden, als auch diejenigen, mit denen –wie mit dem AGR-System –die Emissionen im Vorhinein, d.h. bei ihrer Entstehung, verringert werden, unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ fallen.

Ferner prüft der Gerichtshof, ob eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhangmit dem Ablauf der Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahrenzu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine „Abschalteinrichtung“darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.

Er weist darauf hin, dass die Fahrzeuge im Rahmender teilweisen Zulassung in Bezug aufSchadstoffemissionen anhand des NEFZ-Geschwindigkeitsprofils getestet werden, das darin besteht, im Labor vier Cityzyklen, gefolgt von einem Überlandzyklus,zu durchlaufen. Mit ihmlässt sich u.a. prüfen, ob die emittierte NOx-Menge unter dem in der VerordnungNr. 715/2007 vorgesehenen Grenzwert liegt.

Die Testzyklen für die Emissionen von Fahrzeugen im Rahmendieses Verfahrens beruhen somit nicht auf den tatsächlichen Fahrbedingungen. Die in Rede stehendeSoftware ermöglicht es, die Parameter zu erkennen, die denen der Labortests anhand des NEFZ-Profils entsprechen, und gegebenenfallsden Öffnungsgrad des AGR-Ventils zu erhöhen, umeinen größerenTeil der Abgase zum Ansaugkrümmer zurückzuführen und so die Emissionen des getesteten Fahrzeugs zu verringern.

Sie ermöglicht es mithin, die Funktion des AGR-Ventils zu verstärken, damit die Emissionen unter denin der VerordnungNr. 715/2007 festgelegten Grenzwertenliegen.

Nach einer Prüfung des Begriffs „Abschalteinrichtung“im Sinne dieser Verordnungkommt der Gerichtshofzu dem Schluss, dass eine Software, die wie die in Rede stehende Software die Höhe der Fahrzeugemissionen nach Maßgabe der von ihr erkannten Fahrbedingungen modifiziert und die Einhaltungder Emissionsgrenzwerte nur unter Bedingungen gewährleistet, die den für die Zulassungsverfahren geltenden Bedingungen entsprechen, eine solche Abschalteinrichtung darstellt.

Dies gilt selbstdann, wenn die Verbesserung der Leistung des Emissionskontrollsystems punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.

Die Tatsache, dass die normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge ausnahmsweise den für die Zulassungsverfahren geltenden Fahrbedingungen entsprechen und punktuell die Leistung der fraglichen Einrichtung verbessern können, wirkt sich auf diese Auslegungnicht aus, denn unter den normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge wird das Ziel, die NOx-Emissionen zu verringern, für gewöhnlich nicht erreicht.

Zu der Frage, ob der grundsätzlich unzulässige Einbau einer Abschalteinrichtung, die die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringert, gerechtfertigt werden kann, führt der Gerichtshofaus, dass das Vorhandensein einer solchen Einrichtunges, um gerechtfertigt zusein, ermöglichen muss, den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen, und dass nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen, geeignet sind, die Nutzung einer Abschalteinrichtung zu rechtfertigen.

Das in der Verordnungaufgestellte Verbot würde nämlich seiner Substanz entleert und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn es möglichwäre, auf unzulässige Abschalteinrichtungen allein mit dem Ziel zurückzugreifen, den Motor vor Verschmutzung und Verschleiß zu bewahren.

Daraus ist zu schließen, dass eine Abschalteinrichtung, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, damit die in der Verordnungfestgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden und so die Zulassung dieser Fahrzeuge erreicht wird, nicht unter die Ausnahme von dem in der Verordnung aufgestellten Verbot solcher Einrichtungen fallen kann, selbst wenn die Einrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern.

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