Herr Reime, Sie beschäftigen sich intensiv mit der rechtlichen Aufarbeitung von Schneeballsystemen. Der BGH hat in einem komplexen Fall zur Insolvenzanfechtung von Ausschüttungen im Rahmen der Infinus-Gruppe Stellung genommen. Was war der zentrale rechtliche Streitpunkt?
RA Jens Reime:
Im Kern ging es darum, ob die Ausschüttungen, die Anleger im Rahmen ihrer Genussrechte erhalten haben, im Nachhinein vom Insolvenzverwalter zurückverlangt werden können – also ob sie insolvenzrechtlich als unentgeltliche Leistungen im Sinne von § 134 Abs. 1 InsO gelten. Die große juristische Herausforderung liegt darin, eine klare Abgrenzung zu treffen: Wann handelt es sich um echte vertraglich geschuldete Leistungen – und wann um unentgeltliche, rechtlich anfechtbare Zahlungen?
Der Insolvenzverwalter hatte die Ausschüttungen angefochten, weil kein tatsächlicher Gewinn erwirtschaftet wurde. Wie haben die Gerichte das beurteilt?
Reime:
Unterschiedlich. Das OLG Schleswig und auch das OLG Koblenz haben betont, dass die bloße Tatsache eines fehlenden Gewinns nicht automatisch zu einer Unentgeltlichkeit der Leistung führt. Entscheidend ist, ob die Schuldnerin wusste, dass kein Anspruch der Anleger auf diese Ausschüttungen bestand – also ob ein sogenannter fehlender Rechtsgrund im Sinne des § 814 BGB vorlag. Das ist ein sehr subjektiver Maßstab. Der BGH hat in seiner neueren Rechtsprechung klargestellt: Nur wenn der Schuldner Kenntnis davon hatte, dass keine Gewinne erwirtschaftet wurden und die Ausschüttungen aus frischem Anlegergeld stammen, kann von einem Schneeballsystem mit sittenwidrigem Charakter und damit von fehlender Berechtigung der Zahlungen ausgegangen werden.
Reicht es also nicht aus, dass wirtschaftlich ein Schneeballsystem betrieben wurde?
Reime:
Nein, das allein reicht nicht. Der Begriff „Schneeballsystem“ beschreibt zwar einen betrügerischen Mechanismus – neue Gelder werden verwendet, um alte Verpflichtungen zu bedienen – aber juristisch genügt das nicht. Der BGH stellt klar, dass für die Anfechtung nach § 134 InsO zusätzlich ein Gesetzes- oder Sittenverstoß oder eine sogenannte Kondiktionssperre (§§ 814 oder 817 BGB) vorliegen muss. Und dafür ist unter anderem die subjektive Kenntnis entscheidend: Hat der Geschäftsführer gewusst, dass die Ausschüttungen auf Scheinbilanzen oder erlogenen Gewinnen beruhen?
Wie beurteilen Sie die Rolle der Jahresabschlüsse in diesem Fall?
Reime:
Die veröffentlichen Jahresabschlüsse wiesen Gewinne aus – das war die Grundlage für die Ausschüttungen. Der Insolvenzverwalter argumentierte, diese Bilanzen seien falsch oder sogar gefälscht gewesen. Aber auch hier gilt: Die Anfechtbarkeit hängt davon ab, ob die für die Schuldnerin handelnden Personen wussten, dass die Abschlüsse unzutreffend waren. Das ist schwer zu beweisen. Denn es reicht nicht, dass später Gutachter zu einem anderen bilanziellen Ergebnis kommen – die handelnden Personen mussten bereits zum damaligen Zeitpunkt eine Vorstellung von der Fehlerhaftigkeit haben.
Was bedeutet das Urteil des BGH für Anleger und Insolvenzverwalter ganz konkret?
Reime:
Für Anleger ist es eine wichtige Entscheidung: Nicht jede erhaltene Ausschüttung ist automatisch zurückzuzahlen, nur weil das Unternehmen später insolvent ist und sich als Schneeballsystem herausstellt. Sie genießen grundsätzlich Vertrauensschutz – sofern sie gutgläubig waren. Für Insolvenzverwalter bedeutet das Urteil allerdings eine Hürde. Sie müssen sehr genau darlegen und nachweisen, dass die damaligen Verantwortlichen bewusst gegen die Regeln gespielt haben und die Jahresabschlüsse keine realen wirtschaftlichen Verhältnisse abbildeten.
Ist der Genussrechtsvertrag selbst angreifbar oder nichtig, wenn er Teil eines betrügerischen Systems war?
Reime:
Grundsätzlich nicht. Der BGH hat erneut bestätigt, dass Verträge über Genussrechte wirksam sind, solange sie nicht einen gemeinsamen sittenwidrigen Zweck verfolgen. Nur wenn beide Parteien – also auch der Anleger – wussten oder billigend in Kauf nahmen, dass mit dem Vertrag ein Schneeballsystem betrieben werden sollte, liegt ein sittenwidriger Gesamtzweck vor. Das ist in der Regel nicht der Fall. Die meisten Anleger wurden ja selbst getäuscht.
Was empfehlen Sie geschädigten Anlegern in solchen Konstellationen?
Reime:
Sie sollten bei Rückforderungsansprüchen des Insolvenzverwalters nicht vorschnell zahlen. Jeder Fall ist individuell zu prüfen. In vielen Fällen kann eine Rückzahlung rechtlich abgewehrt werden – gerade wenn die Ausschüttungen auf formell korrekten Jahresabschlüssen beruhten oder wenn keine Kenntnis vom fehlenden Rechtsgrund vorlag. Eine kompetente anwaltliche Prüfung lohnt sich fast immer.
Und für Investoren in der Zukunft – was ist die Lehre aus diesen Fällen?
Reime:
Transparenz und Plausibilität sind zentrale Kriterien. Wenn ein Unternehmen über Jahre hohe Ausschüttungen verspricht, ohne nachvollziehbares Geschäftsmodell oder bei auffälliger Intransparenz in den Bilanzen, sollten die Alarmglocken schrillen. Aber auch aus rechtlicher Sicht gilt: Je besser ein Anleger dokumentiert, dass er gutgläubig war, desto sicherer ist seine Position, wenn es zum Streit kommt.
Herr Reime, vielen Dank für die präzisen Einblicke.
Rechtsanwalt Jens Reime ist auf Kapitalanlagerecht, Insolvenzanfechtung und Anlegerschutz spezialisiert. Er berät bundesweit geschädigte Investoren in Fällen wirtschaftskrimineller Strukturen und betreut Prozesse mit Schwerpunkt auf Insolvenz- und Rückabwicklungsfragen.
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