OLG Frankfurt: Hohe Personalbindung durch Massenverfahren – Spitze beim sog. Dieselskandal überwunden – Rekordzahl an Sitzungstagen bei den Staatsschutzsenaten – 2023 Einführung der elektronischen Akte

„Auch 2022 musste das OLG mit einer ganz erheblichen Überlast umgehen. Die Belastung der Richterinnen und Richter liegt nach dem maßgeblichen Personalbedarfsberechnungssystem seit mehreren Jahren bei mindestens 130%. Wir hoffen deshalb auf eine schnelle Besetzung der bereits freien und der angekündigten zusätzlichen Stellen im richterlichen und nichtrichterlichen Dienst. Schön wäre auch die baldige Besetzung der Stelle einer Präsidentin oder eines Präsidenten für das OLG. 2023 wird darüber hinaus die Einführung der elektronischen Akte den Arbeitsalltag im OLG prägen. Im Frühjahr startet die Pilotierung durch drei Zivilsenate. Ab Herbst soll die elektronische Aktenführung dann im ganzen OLG beginnen. Meldungen aus anderen Pilotgerichten geben Anlass, die Entwicklung vorsichtig optimistisch einzuschätzen. Die technischen Veränderungen bieten auch Raum für Erleichterungen und neue Möglichkeiten flexiblen Arbeitens“, führte die seit November 2022 amtierende Vizepräsidentin des Oberlandesgerichts Dr. Ruth Römer heute anlässlich des traditionellen Rück- und Ausblicks zwischen den Jahren aus.

Allein in den 29 Zivilsenaten gingen im Jahr 2022 rund 6.800 neue Verfahren ein. Dieser Wert entspricht ungefähr dem Eingangsvolumen aus dem Jahr 2021 (knapp 7000), und liegt damit weiterhin ca. 30 % über den Eingangszahlen der Jahre 2018 (4.900) und 2017 (4.500).

Dabei entfiel 2022 weiterhin ein ganz erheblicher Anteil auf Verfahren im Zusammenhang mit dem sog. Dieselskandal. Gegenüber der Spitzenbelastung mit diesen Verfahren im Jahr 2019 beträgt der Neueingang 2022 allerdings nur noch die Hälfte (2019: 3.496 Verfahren – 2022: knapp 1.700 Verfahren). Im Schnitt betrifft damit 2022 jeder vierte Eingang in Zivilsachen den Dieselkomplex; 2021 waren es noch ca. 30% aller eingehenden Verfahren. Nach zwei ungefähr gleichstarken Belastungsjahren 2020 und 2021 (2.374 (2020) bzw. 2.365 (2021) Verfahren pro Jahr) lässt die Tendenz 2022 damit auf einen deutlichen Rückgang der Verfahren schließen. Dabei bestätigt sich die Verschiebung der Neueingänge hinsichtlich der betroffenen Marken. Entfiel 2020 der größte Teil der Verfahren auf den Hersteller VW, trifft dies gegenwärtig nur noch auf ungefähr die Hälfte aller Verfahren im Zusammenhang mit dem Dieselskandal zu. Hinsichtlich der weiteren Marken ergeben sich ebenfalls Verschiebungen. Hatten sich etwa die Berufungsverfahren gegen den Hersteller Audi 2021 gegenüber 2020 verdoppelt, ist dort nunmehr eine Seitwärtsbewegung zu sehen. Die Verfahren gegen den Hersteller Mercedes-Benz-Group haben sich dagegen gegenüber 2021 wieder halbiert und liegen ungefähr auf dem Niveau von 2020. Weiter angestiegen auch gegenüber dem Jahr 2021 sind dagegen die Verfahren gegen BMW. Alle Verfahren gestalten sich weiterhin bei geringer Vergleichsbereitschaft und einer Vielzahl rechtlicher und tatsächlicher Fragestellungen sehr aufwändig.

Erstmals muss sich das OLG im Jahr 2022 auch mit zahlreichen Verfahren gegen Hersteller von Wohnmobilen im Zusammenhang mit dem Dieselskandal befassen. Die Anzahl der Berufungen beläuft sich auf ungefähr 230 Verfahren.

Weitere Massenverfahren beschäftigen das OLG in Form von Amtshaftungsprozessen im Zusammenhang mit dem sog. Wirecard-Skandal. Die Kläger nehmen die BAFin wegen unzulänglicher Aufsichtstätigkeit in Anspruch. Nachdem 2021 lediglich ein Berufungsverfahren in diesem Zusammenhang eingegangen war, beläuft sich die Zahl 2022 auf knapp 450 Verfahren.

Auch die acht Familiensenate des OLG haben durch die Änderungen des FamFG im Sommer 2021 erhebliche Belastungen zu tragen.

Mit insgesamt 120 Sitzungstagen haben die Staatsschutzsenate einen Spitzenwert erreicht (2021: 95 Tage). Die Belastung ist weiterhin hoch. 2022 wurden zwei Staatsschutzverfahren abgeschlossen. Im Juli verurteilte der 5. Strafsenat (Staatsschutzsenat) Franco A. u.a. der wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Über die eingelegten Revisionen wird der Bundesgerichtshof entscheiden. Prozess und Urteil erfolgten unter großer nationaler und internationaler Beobachtung. Im Oktober wurde zudem Amin M. wegen eines Kriegsverbrechens gegen Personen zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.

Gegenwärtig verhandelt der 5. Strafsenat zwei weitere Verfahren. An bislang 48 Verhandlungstagen klärt der Senat die Vorwürfe gegen Alaa M. auf, der in Militärkrankenhäusern in Syrien Folterungen an Zivilisten vorgenommen haben soll, die er als regimekritisch eingeordnet habe. Auch dieses Verfahren findet international große Beachtung, da die Beweisaufnahme sich mit den Zuständen in syrischen Gefängnissen und Militärkrankenhäusern und dem Umgang des Regimes mit Oppositionellen befasst. Bislang wurden bereits acht Sachverständige gehört und 13 Zeugen vernommen. Wann es zum Urteilserlass kommen wird, ist derzeit nicht absehbar. Gegenwärtig sind Termine zur Fortsetzung der Hauptverhandlung bis Ende April 2023 bestimmt.

Zudem führt der 5. Strafsenat ein Verfahren gegen Marvin E., dem u.a. vorgeworfen wird, versucht zu haben, eine terroristische Vereinigung zu gründen und eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten. Bislang wurden in diesem Verfahren 20 Verhandlungstage durchgeführt. Fortsetzungstermine sind auch hier derzeit bis Ende April 2023 bereits bestimmt.

Der infolge der Überlast im vergangenen Jahr eingerichtete 5a. Strafsenat (Staatsschutzsenat) verhandelt darüber hinaus seit April 2022 ein Verfahren gegen Abdullah Ö, dem Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung „PKK“ vorgeworfen wird. An bislang 31 Sitzungstagen wurden 21 Zeugen vernommen und drei Sachverständige gehört. Darüber hinaus wurden 130 Telefonüberwachungsprotokolle in das Verfahren eingeführt. Die von zahlreichen Krankheitsfällen unterbrochene Verfahrensführung ist komplex, u.a. im Hinblick auf die maßgeblichen Übersetzungsleistungen. Zurzeit sind Termine bis ins Frühjahr 2023 hinein angesetzt.

Die Phänomenbereiche islamistischer Terror, Rechtsextremismus und PKK werden das OLG auch im Jahr 2023 weiter beschäftigen.

Am 16.1.2023 wird vor dem 8. Strafsenat die Hauptverhandlung im Verfahren gegen Fatiha B. beginnen. Ihr wird vorgeworfen, Mitglied in zwei terroristischen Vereinigungen im Ausland (Jabhat al-Nusra und „IS“) gewesen zu sein sowie ihre Fürsorge- und Erziehungspflichten verletzt zu haben. Derzeit sind Termine bis Mitte März 2023 bestimmt. Der 8. Strafsenat hat darüber hinaus über eine Anklage der Bundesanwaltschaft zu entscheiden, die sich wiederum mit dem PKK-Komplex befasst. Eine Entscheidung über die Zulassung der Anklage wird gegenwärtig im ersten Quartal 2023 erwartet.

Voraussichtlich Anfang 2023 wird der 5. Strafsenat über die Eröffnung eines weiteren Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung entscheiden. Die Bundesanwaltschaft wirft der Angeschuldigten u.a. vor, sich nach Ausreise nach Syrien der Organisations- und Befehlsstruktur des „IS“ unterworfen zu haben. Die Angeschuldigte befindet sich auf freiem Fuß.

Darüber hinaus hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main angekündigt, im kommenden Jahr in zwei Verfahren, die die mitgliedschaftliche Beteiligung an der terroristischen Vereinigung „IS“ betreffen, Anklage zu erheben.

„Das Oberlandesgericht hat trotz der außerordentlichen Belastung und der über ein halbes Jahr andauernden Vakanz der gesamten Hausspitze im Jahr 2022 seine Funktionsfähigkeit bewiesen. Ich bin sicher, dass dies auch 2023 so bleibt“, sagte OLG-Vizepräsidentin Ruth Römer abschließend.

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