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Interview mit Rechtsanwältin Kerstin Bontschev: „Das Urteil klärt wichtige Grundsätze zur Haftung juristischer Personen bei Wirtschaftsstraftaten“

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Frau Bontschev, der Bundesgerichtshof hat in einem aufsehenerregenden Urteil entschieden, dass mehrere juristische Personen gesamtschuldnerisch für ein betrügerisches Schneeballsystem haften. Was bedeutet dieses Urteil ganz grundsätzlich?

Kerstin Bontschev:
Das Urteil schafft Klarheit über die Reichweite des § 31 BGB, also der Norm, die regelt, wann juristische Personen für das Verhalten ihrer Organe haften. Entscheidend ist: Nicht die juristische Person selbst begeht die Tat – sondern sie haftet für das schuldhafte Verhalten ihres Organs, etwa des Vorstands. Der BGH hat nun bestätigt, dass mehrere Unternehmen dann gesamtschuldnerisch haften können, wenn ein und dieselbe natürliche Person – in diesem Fall der Vorstand – in unterschiedlichen Funktionen für mehrere Firmen schadenstiftend tätig wird. Diese Rechtsprechung ist ein starkes Signal an Unternehmensgruppen.

Wie ist das mit der sogenannten „amtlichen Eigenschaft“ zu verstehen – was meint der BGH damit?

Bontschev:
Der Begriff „amtliche Eigenschaft“ bezieht sich auf die Funktion des Organs innerhalb der juristischen Person – also auf Handlungen, die innerhalb des ihm zugewiesenen Wirkungskreises erfolgen. Das bedeutet: Nur wenn das Organ – z. B. der Vorstand – in Ausübung seiner offiziellen Aufgaben handelt, haftet die Gesellschaft. Handelt er rein privat oder als Organ einer anderen Firma, greift § 31 BGB nicht. Der BGH stellt aber klar: Wenn dieselbe Person etwa bei A als Vorstand und bei B als Geschäftsführer tätig ist und in beiden Rollen schadenstiftend wirkt, können beide Firmen haften – als Gesamtschuldner.

Was genau bedeutet „Gesamtschuldnerhaftung“ in diesem Zusammenhang?

Bontschev:
Gesamtschuld bedeutet: Der geschädigte Anleger kann sich aussuchen, von wem er seinen Schaden ersetzt verlangt – also von jeder der beteiligten juristischen Personen in voller Höhe. Wer zahlt, kann sich den Anteil danach im Innenverhältnis von den Mitverantwortlichen zurückholen. Für Anleger ist das sehr vorteilhaft – für die betroffenen Firmen aber ein großes Risiko, weil sie nicht einfach auf ihre eigene Unschuld verweisen können, wenn das gemeinsame Organ „doppelt“ gehandelt hat.

In dem Urteil geht es um ein sogenanntes Schneeballsystem. Warum ist das für die rechtliche Bewertung relevant?

Bontschev:
Weil es sich dabei um ein typisches „Organisationsdelikt“ handelt: Das Geschäftsmodell lebt davon, dass Geld neuer Anleger genutzt wird, um die Ansprüche früherer zu bedienen. Die Täuschung erfolgt systematisch, häufig ohne dass der Täter direkt mit den Anlegern in Kontakt kommt. Deshalb reicht es – wie der BGH betont – aus, dass das Organ mittelbarer Täter ist. Selbst wenn die juristische Person nie direkt mit dem Geschädigten zu tun hatte, kann sie für die Täuschung haften. Das ist ein wichtiger Aspekt, der die Reichweite der Organhaftung deutlich ausweitet.

Bedeutet das Urteil eine Ausweitung der Organhaftung nach § 31 BGB?

Bontschev:
In gewisser Weise ja – zumindest eine Präzisierung. Es war zwar bereits anerkannt, dass ein Organ mehrere Unternehmen vertreten kann und theoretisch beide haften können. Neu ist aber die Deutlichkeit, mit der der BGH jetzt sagt: Wenn dieselbe Person systematisch in beiden Rollen tätig wird – z. B. bei der Erstellung eines irreführenden Prospekts bei Firma A und beim Vertriebsmodell bei Firma B – dann haften beide Firmen nebeneinander, auch wenn das Verhalten formal nicht unmittelbar den Geschädigten betrifft.

Welche praktische Relevanz hat das Urteil für die Finanz- und Unternehmenswelt?

Bontschev:
Die praktische Relevanz ist enorm. Das Urteil mahnt insbesondere Unternehmensgruppen und ihre Organe zur Vorsicht. Wer als Geschäftsleiter für mehrere verbundene Firmen tätig ist, muss sich bewusst sein: Fehlverhalten kann gleich mehrere Firmen in die Haftung bringen – mit existenzbedrohenden Folgen. Das Urteil zeigt auch, dass „kreative“ Modelle der Innenverrechnung, Gewinnabführungsverträge oder Provisionskarusselle, wenn sie der Täuschung dienen, zivil- und strafrechtlich durchleuchtet werden. Die wirtschaftliche Realität zählt – nicht die juristische Verpackung.

Gilt diese Haftung nur für Kapitalanlagesachen wie hier oder auch für andere Bereiche?

Bontschev:
Die Grundsätze gelten überall dort, wo ein Organ in Ausübung seiner Funktion Dritte schädigt, also z. B. auch bei Wettbewerbsverstößen, Umweltvergehen oder massenhaften Datenschutzverletzungen. Die Kapitalanlagefälle sind besonders plakativ, weil die Schäden oft groß sind und viele Anleger betroffen sind. Aber rechtlich gilt: § 31 BGB ist allgemein anwendbar, nicht nur bei Schneeballsystemen.

Und was sollten Anleger daraus lernen?

Bontschev:
Anleger sollten genau prüfen, welche Unternehmen in ein Anlageprodukt involviert sind – auch wenn sie selbst nur mit einer Firma im Kontakt stehen. Der BGH bestätigt: Wenn mehrere juristische Personen Teil eines Gesamtsystems sind, kann auch gegen „indirekt“ Beteiligte erfolgreich vorgegangen werden. Das kann im Insolvenzfall entscheidend sein, um überhaupt noch Ansprüche durchzusetzen.

Frau Bontschev, vielen Dank für das Gespräch.


Rechtsanwältin Kerstin Bontschev ist Expertin für Kapitalanlagerecht und berät insbesondere geschädigte Anleger in Insolvenz- und Schadensersatzverfahren.

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