Ein bemerkenswerter Trend zeichnet sich derzeit in der US-Politik ab: Immer mehr republikanische Abgeordnete des Repräsentantenhauses kehren Washington den Rücken – nicht aus Altersgründen oder wegen Wahlniederlagen, sondern weil sie lieber Gouverneure in ihren Heimatstaaten werden wollen. 2026 wird ein Rekordjahr: Noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1974 haben so viele Kongressabgeordnete eine Kandidatur für das Amt des Gouverneurs angekündigt.
Zehn Republikaner aus dem Repräsentantenhaus wollen ins Gouverneursamt wechseln. Hinzu kommen drei Senatoren, die ebenfalls lieber in ihren Bundesstaaten regieren möchten. Der Grund: Frustration über die politische Realität in Washington – von parteipolitischer Lähmung bis hin zu wachsendem politischen Extremismus.
„Ich will gestalten, nicht streiten“
Ein prominentes Beispiel ist der Abgeordnete Tom Tiffany aus Wisconsin. Er bringt es auf den Punkt: „Ich glaube, ich habe als Gouverneur mehr Einfluss als als Gesetzgeber.“ Viele seiner Kollegen sehen das ähnlich: Sie wollen keine Rädchen im Getriebe mehr sein – einer unter 435 – sondern „der eine“, der wirklich Entscheidungen trifft.
Auch Senator Tommy Tuberville aus Alabama zieht die Konsequenz: „Hier im Senat trifft man kaum Entscheidungen. In der Landespolitik dagegen kann man etwas aufbauen.“
Die toxische Atmosphäre in Washington
Was sie alle eint: die wachsende Frustration über die toxische Atmosphäre im Kongress. Michael McCaul, langjähriger Vorsitzender der Ausschüsse für Heimatschutz und Auswärtige Angelegenheiten, beklagt, wie sehr sich der Ton verändert habe: „Parteipolitik, Hassreden, das Dämonisieren des politischen Gegners – es ist ein Klima geworden, in dem kaum noch gute Gesetzgebung möglich ist.“
Ein anderer republikanischer Abgeordneter bringt es nüchtern auf den Punkt: „Es ist eine historische Ehre, im Kongress zu dienen. Aber manchmal fragt man sich einfach: Wofür mache ich das hier eigentlich noch?“
Rückzug trotz republikanischer Mehrheit
Ironisch: Gerade jetzt, wo die Republikaner wieder das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, ist die Fluchtbewegung besonders groß. Das liegt auch daran, dass die parteiinterne Einigkeit trügerisch ist. Die knappen Mehrheiten führen zu ständigen Machtspielen, internen Querelen und lähmendem Stillstand.
Selbst die Umsetzung von Trumps Agenda stockt. Zwar wurde im Sommer ein großes Gesetzespaket verabschiedet, doch viele Abgeordnete glauben, auf Bundesebene nur noch symbolisch zu agieren – während sie auf Landesebene echten Einfluss hätten.
Rekordzahl an Gouverneurskandidaturen
Insgesamt haben bisher 14 Kongressabgeordnete – zehn davon Republikaner – ihre Kandidatur für Gouverneurswahlen 2026 angekündigt. In Bundesstaaten wie South Carolina und Arizona kommt es sogar zu internen Duellen republikanischer Kongressmitglieder um das Gouverneursamt.
Einige Kandidaturen scheiterten bereits im Ansatz – so stieg Elise Stefanik aus New York noch vor Jahresende wieder aus dem Rennen aus. Doch der Trend bleibt ungebrochen.
Gouverneur statt Gesetzgeber: Macht und Gestaltungsspielraum
Das Amt des Gouverneurs bietet – besonders in republikanisch geprägten Staaten – weitreichende Vollmachten. Gesetze können schneller umgesetzt, Verwaltung aktiv gestaltet, und politische Programme direkt durchgesetzt werden. Für Anhänger der Trump-Agenda ist das ein enormer Anreiz. Viele sehen in der Rolle des Gouverneurs die Chance, Trumps Politik auf regionaler Ebene durchzusetzen – unabhängig vom lähmenden politischen Betrieb in Washington.
Nancy Mace aus South Carolina etwa, eine der prominentesten republikanischen Frauen im Repräsentantenhaus, kritisierte jüngst offen die Parteiführung als „ineffektiv“ und warnt in einem Gastbeitrag, dass die Republikaner ohne Kurswechsel erneut die Kontrolle über Washington verlieren könnten.
Fazit: Ein stilles Misstrauensvotum
Die Massenflucht aus dem Kongress ist mehr als nur eine Karrierestrategie – sie ist ein stilles Misstrauensvotum gegen das politische System in Washington. Der Kongress wird zunehmend als Symbol für Blockade, Streit und Ineffizienz wahrgenommen. Wer wirklich gestalten will, zieht sich in die Bundesstaaten zurück. Dort, so das Kalkül vieler Republikaner, lässt sich Politik noch direkt und sichtbar umsetzen.
Die Frage ist nur: Wenn selbst langjährige Kongressabgeordnete nicht mehr an den Einfluss der Legislative glauben – wie lange bleibt das politische Gleichgewicht in den USA noch stabil?
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