Im Prozess gegen Karen Read, die beschuldigt wird, ihren Freund – den Bostoner Polizisten John O’Keefe – mit ihrem SUV überfahren und anschließend im Schnee liegengelassen zu haben, steht zunehmend nicht nur die Angeklagte, sondern auch die Polizeiarbeit im Fokus.
Read, eine ehemalige Finanzprofessorin, wird vorgeworfen, ihren Partner im Januar 2022 aus Wut überfahren zu haben. Doch ihre Verteidigung behauptet, die Polizei habe die Ermittlungen grob fahrlässig und parteiisch geführt – und damit möglicherweise entscheidende Beweise verfälscht oder verspätet eingebracht.
Was wirft die Verteidigung der Polizei vor?
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Blutproben in roten Solo-Bechern gesammelt: Bereits kurz nach Auffinden von O’Keefes Leiche verwendete ein Beamter einen Laubbläser, um den Schnee vom Tatort zu entfernen. Anschließend sammelte er geronnenes Blut in Einwegbechern, weil keine forensische Ausrüstung zur Hand war.
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Keine Dokumentation: Der Beamte erstellte keinen Bericht und fertigte keine Skizzen über den Fundort der Beweise an.
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Beweise spät registriert: Teile eines Rücklichts, die am Tatort gefunden wurden, wurden erst Wochen später ins Beweismittelsystem eingebucht.
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Extrem späte Zeugenaussagen: Wichtige Zeugen wie Heather Maxon, die ein verdächtiges Fahrzeug am Tatort gesehen haben will, wurden erst über ein Jahr später befragt.
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Berichte teils erst nach 581 Tagen verfasst
Expertenmeinungen: Schlampige Arbeit – oder kalkulierter Zweifel?
Rechtsanwältin Kate Mangels (Kalifornien) meint:
„Solche Ermittlungsfehler schaffen Raum für berechtigte Zweifel. Es muss kein Komplott sein – aber es sind grobe Verfahrensmängel.“
Der Verteidiger David Ring erklärt:
„Der Fokus auf die Solo-Becher ist clever. Es ist visuell und emotional wirkungsvoll, obwohl der Inhalt vermutlich vom Opfer stammt.“
Auch Patrick McLaughlin, ehemaliger NYPD-Tatorttechniker, kritisiert:
„Das Ziel muss immer sein, die Beweise so solide zu sammeln, dass die Verteidigung keine Angriffsfläche hat.“
Was sagen Polizei und Staatsanwaltschaft?
Der Massachusetts State Police Sergeant Yuri Bukhenik verteidigte das Vorgehen seiner Einheit. Dass Beweise erst später eingebucht wurden, bedeute nicht, dass sie nicht sicher verwahrt gewesen seien.
„Nur weil es nicht dokumentiert ist, heißt das nicht, dass es falsch gehandhabt wurde.“
Warum diese Taktik Erfolg haben könnte
Read stand bereits 2024 vor Gericht – das Verfahren endete mit einem „hung jury“, also ohne einstimmiges Urteil. Nun versucht ihre Verteidigung erneut, das Vertrauen der Geschworenen in die Beweismittel zu erschüttern.
Sydney Rushing, Strafverteidigerin aus Michigan, sagt:
„Das ist genau der Grund, warum Menschen der Polizei misstrauen. Wie soll eine Jury einem Bericht glauben, der fast zwei Jahre nach der Tat geschrieben wurde?“
Fazit: Prozess mit Signalwirkung
Der Fall Karen Read erinnert viele Beobachter an prominente Prozesse wie den um O.J. Simpson, bei denen die Qualität der Ermittlungen selbst zum Dreh- und Angelpunkt wurde. Das Gericht muss nun klären, ob die Unregelmäßigkeiten ausreichend sind, um berechtigten Zweifel an der Schuld der Angeklagten zu begründen – oder ob sie lediglich Verfahrenstechnisches sind, das nicht vom Kern der Anklage ablenken sollte.
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