Was wäre, wenn Wissenschaftler eine Lebensform erschaffen würden, die so fremdartig ist, dass unser Immunsystem sie nicht erkennen kann? Eine Lebensform, die natürlichen Ökosystemen entkommen könnte – und gegen die weder Antibiotika noch biologische Gegenspieler wirken? Genau diese Möglichkeit sorgt aktuell in der Wissenschaftswelt für Unruhe: sogenannte Spiegelzellen oder Mirror Life.
Was ist „Mirror Life“?
Alle natürlichen Lebewesen bestehen aus Molekülen, die eine bestimmte Chiralität aufweisen – also Rechts- oder Linkshändigkeit. Zum Beispiel sind unsere DNA-Bausteine „rechtshändig“, Proteine dagegen „linkshändig“. Diese molekulare Ausrichtung ist essenziell: Nur passende „Hände“ passen ineinander, nur so funktionieren biologische Prozesse.
Ein Spiegelorganismus wäre ein vollständiger Organismus, der ausschließlich aus spiegelbildlichen Molekülen besteht – also quasi ein molekulares „Gegenstück“ zur bekannten Biologie. In der Natur kommt so etwas nicht vor.
Von vielversprechender Forschung zum potenziellen Risiko
Die US-amerikanische Biologin Kate Adamala erhielt 2019 mit drei Kollegen einen Forschungsetat von 4 Millionen US-Dollar, um die Machbarkeit solcher Spiegelzellen zu untersuchen. Die Hoffnung: neue Einblicke in den Ursprung des Lebens und Medikamente gegen resistente Keime.
Doch bald kamen Zweifel auf. Fachleute aus Immunologie, Biosicherheit und Ökologie warnten: Ein Spiegelorganismus könnte völlig unsichtbar für das menschliche Immunsystem sein. Sollte er jemals versehentlich in die Umwelt oder den Körper gelangen, könnte das dramatische Folgen haben – bis hin zu einer globalen Katastrophe.
„Ich dachte immer, das Immunsystem erkennt alles Fremde“, sagt Adamala. „Aber ich wusste nicht, wie stark chiral es selbst ist.“
Ein alarmierender Bericht
Im Dezember 2024 veröffentlichten 38 internationale Wissenschaftler – darunter Adamala – einen Bericht im Fachjournal Science, der das Thema erstmals öffentlich machte:
„Confronting Risks of Mirror Life“ – Konfrontation mit den Risiken des Spiegel-Lebens.
Der über 300 Seiten lange Bericht warnt, dass die Entstehung von Spiegelbakterien in den nächsten 10–30 Jahren technisch möglich sein könnte – und dass sie sich möglicherweise unkontrolliert vermehren, Ökosysteme verdrängen oder Krankheiten auslösen könnten, gegen die es keine Therapie gäbe.
Zwischen Fortschritt und Vorsicht
Auf internationalen Konferenzen – etwa im September 2025 in Manchester – diskutierten Wissenschaftler, welche roten Linien bei der Forschung gezogen werden sollten. Fast alle sind sich einig: Ein lebender Spiegelorganismus darf nicht erschaffen werden. Doch wo genau die Grenze verläuft, bleibt umstritten.
Manche, wie der Biochemiker Michael Kay, warnen vor pauschalen Verboten: Spiegelmoleküle selbst seien bereits heute wichtige Bestandteile von Medikamenten, da sie stabiler und langlebiger im Körper seien. Diese „chiralen Medikamente“ seien sicher, weil sie sich nicht selbst replizieren können – im Gegensatz zu Zellen.
„Ich fürchte, der Begriff ‚Mirror‘ wird zum Synonym für gefährlich, obwohl Spiegelmoleküle große Vorteile haben“, so Kay.
Ein Wettlauf mit der Zeit
Während Adamala ihre Forschung an Spiegelzellen beendet hat, arbeiten andere Teams weiterhin an der Herstellung synthetischer Zellen mit normaler Chiralität. Der nächste große Schritt in der Biologie – eine künstliche, aber natürliche Zelle – könnte schon bald gelingen.
Doch dieser Fortschritt bringt auch Risiken mit sich. Der Mikrobiologe David Relman, der auch bei der Aufklärung der Anthrax-Angriffe 2001 half, sieht in Mirror Life den ersten realistischen existentiellen Risikofaktor seiner Karriere: „Etwas, das alles Leben auf der Erde verdrängen könnte.“
Er fordert, dass die Wissenschaft diesmal proaktiv handelt – bevor etwas erschaffen wird, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.
„Wir müssen uns fragen, ob wir etwas tun sollten – nicht nur, ob wir es können“, so Relman in Anlehnung an Jurassic Park.
Fazit:
Mirror Life existiert (noch) nicht – aber die Technologie zur Erschaffung könnte bald verfügbar sein. Es liegt an der heutigen Generation von Wissenschaftlern, Ethikern und Politikern zu entscheiden, ob sie diesen Weg gehen – oder ihn bewusst blockieren.
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