Nach Jahren eisiger Spannungen an der gemeinsamen Grenze zeigen Indien und China zaghafte Signale der Annäherung – allerdings mit gegenseitiger Vorsicht und strategischem Misstrauen im Gepäck.
Spätestens seit dem Besuch zweier hochrangiger indischer Regierungsvertreter in Peking Ende Juni ist klar: Beide Seiten prüfen ernsthaft, wie eine Wiederbelebung der bilateralen Beziehungen aussehen könnte. Verteidigungsminister Rajnath Singh und Sicherheitsberater Ajit Doval reisten separat nach China – zum ersten Mal seit fünf Jahren. Offizieller Anlass: Treffen im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO).
Im Zentrum der Spannungen steht weiterhin die 3.440 Kilometer lange, teils unklare Grenzlinie. Seit dem blutigen Zusammenstoß im Galwan-Tal 2020 mit mindestens 24 Toten herrscht Misstrauen, trotz Teilrückzügen beider Armeen.
Neue Annäherung – aus geopolitischer Notwendigkeit
Doch der Wandel des globalen Machtgefüges zwingt Delhi zum Umdenken. Unter Donald Trumps zweiter Amtszeit veränderten sich die USA-Indien-Beziehungen – aus indischer Sicht nicht zum Positiven. Enttäuschung über ausbleibende Rückendeckung aus Washington, insbesondere im Konflikt mit Pakistan im Mai, spielt eine zentrale Rolle.
„Indien hatte mit einer verlässlicheren Partnerschaft mit den USA gerechnet“, erklärt Professor Christopher Clary von der University of Albany. Als Trump dann auch noch behauptete, einen Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan vermittelt zu haben – entgegen Delhis Darstellung –, war das diplomatische Desaster perfekt.
Parallel intensiviert Peking die militärische Zusammenarbeit mit Islamabad – Pakistan setzte im Mai auf chinesische Kampfjets und Raketensysteme. Für Indien ein Weckruf.
Handelsinteressen und strategischer Pragmatismus
Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Delhi und Peking ist enorm: Mit einem bilateralen Handelsvolumen von über 127 Milliarden US-Dollar ist China Indiens zweitgrößter Handelspartner – trotz politischer Eiszeit. Besonders kritisch: Indien ist auf chinesische Exporte wie seltene Erden, Magnete und Düngemittel angewiesen.
Dass China diese strategischen Rohstoffe als wirtschaftliches Druckmittel nutzt, alarmiert Delhi. Die indische Automobilbranche warnt bereits vor Produktionsausfällen. Gespräche auf Regierungsebene laufen.
Dennoch versucht China, über wirtschaftliche Öffnung Vertrauen aufzubauen: Pilgerreisen nach Tibet wurden wieder erlaubt, Visaerleichterungen eingeführt, und Direktflüge wieder aufgenommen. Auch Peking ist an Stabilität in den Himalaya-Grenzregionen interessiert – nicht zuletzt, um seine Kräfte im Pazifik (insbesondere im Hinblick auf Taiwan) zu bündeln.
Strategische Balance – keine Allianz, aber Zusammenarbeit
Indien steht in einem geopolitischen Dilemma: Einerseits will es sich nicht zu abhängig von den USA machen – deren Politik unter Trump als unzuverlässig empfunden wird. Andererseits sieht man auch China mit wachsender Skepsis, vor allem wegen seiner aggressiven Grenzpolitik.
Zwar zeigt sich Delhi gesprächsbereit, doch rote Linien bleiben: Die chinesischen Gebietsansprüche auf Arunachal Pradesh – aus chinesischer Sicht „Süd-Tibet“ – werden kategorisch zurückgewiesen. Hier will Indien keine Kompromisse machen.
Zwischen den Blöcken
Auch die internationale Gemengelage beeinflusst Indiens Verhalten. Russland, langjähriger Partner und Rüstungslieferant, driftet wegen des Ukraine-Kriegs immer enger an China. Das lässt Delhi zunehmend am eigenen Einfluss in Moskau zweifeln.
Gleichzeitig hat sich Chinas Einfluss in multilateralen Gremien wie der SCO und BRICS verstärkt – auch dies beobachtet Indien mit Argwohn, aber auch mit Realismus.
Fazit: Dialog statt Blockdenken
Ein großer Durchbruch ist nicht in Sicht, doch beide Länder scheinen sich auf ein „funktionales Verhältnis“ zubewegen zu wollen: Kooperation, wo möglich – aber keine Illusionen.
„Indien will Stabilität – aber keine Unterwerfung“, sagt der frühere Diplomat Phunchok Stobdan. Es sei eine Gratwanderung zwischen nationaler Stärke und internationalem Pragmatismus.
Wie lange dieser Drahtseilakt gelingt, hängt davon ab, ob beide Seiten erkennen: Weder Washington noch Moskau noch Brüssel werden das Grenzproblem lösen – das können nur Delhi und Peking selbst.
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