Der Golfstrom – im Fachjargon Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) – schwächt sich laut Experten rapide ab. Klimaforscher wie Stefan Rahmstorf (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung) und Frederik Schenk (Universität Stockholm) zeichnen ein düsteres Bild: Sollte das System zusammenbrechen, drohten Europa in wenigen Jahrzehnten drastische Klimaveränderungen – von eiskalten Wintern bis zu sengend heißen Sommern.
Warum der Golfstrom wankt
Die Schmelze des grönländischen Eisschilds spült große Mengen Süßwasser in den Atlantik. Dadurch sinkt der Salzgehalt, das kalte Tiefenwasser kann nicht mehr wie gewohnt absinken, die Zirkulation gerät ins Stocken. Laut Rahmstorf ist die AMOC „schwächer als jemals in den letzten 1000 Jahren“. Sollte der Kipppunkt überschritten sein, werde sich die Strömung „in den kommenden Jahrhunderten nicht mehr erholen lassen“.
Was ein Kollaps für Europa bedeutet
Ohne den Golfstrom fehlt Europa die Wärmepumpe aus dem Atlantik. Südeuropa würde sich weiter aufheizen, während Nord- und Mitteleuropa stark abkühlen – ein Klima „wie in Sibirien, mitten in Europa“, warnt Schenk. Die Vegetationsphasen würden sich verkürzen, Landwirtschaft und Forstwirtschaft wären in weiten Teilen nicht mehr möglich, besonders in den nordischen Ländern. Hinzu kämen heißere Sommer, akute Trockenheit und extremere Stürme, ausgelöst durch stärkere Temperaturgegensätze.
Schon jetzt messbare Folgen
Zwar spüren wir aktuell noch keine arktischen Winter, doch laut Rahmstorf sind die indirekten Effekte bereits sichtbar. Besonders heiße Sommer in Europa korrelieren mit kalten Meerestemperaturen im Atlantik – dem sogenannten „Cold Blob“. „Europa ist ein Hotspot für Hitzewellen geworden“, sagt er. Selbst eine Abschwächung, nicht erst ein kompletter Kollaps, hatte in der Vergangenheit massive Folgen: Wälder verschwanden, Bevölkerungen schrumpften.
70 Prozent Kollaps-Wahrscheinlichkeit
Rahmstorf schätzt die Wahrscheinlichkeit eines Golfstrom-Kollapses bei unverändert hohem Treibhausgasausstoß auf 70 Prozent. Passiere das, könnte die AMOC innerhalb von 50 bis 100 Jahren vollständig zusammenbrechen. „Das würde praktisch alles ändern“, sagt Schenk. „Es gäbe dann keinen Grund mehr, hier zu leben.“
Was noch Hoffnung macht
Die Wissenschaftler betonen, dass es noch Handlungsspielraum gibt. „Wir haben die Technologien“, sagt Rahmstorf, „wir müssen sie nur nutzen und dürfen uns nicht länger von Interessengruppen ausbremsen lassen.“ Energiewende, Verkehrswende und eine drastische Reduktion von Treibhausgasen könnten verhindern, dass der Kipppunkt überschritten wird.
Doch der Zeitrahmen ist eng. „Wenn es kommt, ist es zu spät“, warnt Rahmstorf. „Ich denke mit Grausen an die Zukunft meiner Kinder.“
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