Die Schlagzeilen jubeln, die Kameras fangen Tränen ein, die Welt atmet kurz auf: Rund 250 palästinensische Häftlinge und 1.700 weitere Festgenommene sind im Zuge des Gaza-Abkommens auf freien Fuß gesetzt worden – als Teil eines Deals, der angeblich Frieden bringen soll, in Wahrheit aber die alte Spirale aus Symbolpolitik und Selbsttäuschung weiterdreht.
Denn wer genau hinsieht, erkennt: Das, was man als „humanitären Fortschritt“ verkauft, ist in Wahrheit ein zynischer Tauschhandel zwischen zwei Realitäten, die sich längst nicht mehr berühren – israelische Trauer und palästinensische Verzweiflung.
Die eine Seite jubelt – die andere erträgt
Im zerstörten Gaza und im Westjordanland jubelten Tausende, als die Busse des Roten Kreuzes mit Freigelassenen eintrafen. V-Zeichen, Freudentränen, Sprechchöre. Ein Moment des Triumphs – zumindest für den Augenblick. Denn viele der Rückkehrer kehren nicht in ihr Leben zurück, sondern in dessen Trümmer. Manche erfahren erst jetzt, dass ihre Familien ausgelöscht wurden, ihre Häuser verschwunden sind, ihre Welt nicht mehr existiert.
Und dennoch: Die Feier wird abgehalten, weil jeder Jubel besser ist als das Schweigen der Ohnmacht
Ernüchterung mit Ansage
Auf der anderen Seite der Grenze: bedrückte Stille. In Israel herrscht keine Freude, sondern bittere Akzeptanz. Die Rückkehr von 20 israelischen Geiseln – nach mehr als zwei Jahren Hölle in Hamas-Haft – ist ein Akt der Menschlichkeit. Doch der Preis dafür: die Freilassung jener, die für viele Israelis nur eines bedeuten – Mord, Terror und unverheilbare Wunden.
Für Angehörige der Opfer ist es eine moralische Zumutung, die Täter ihrer Familien auf Fernsehbildern bejubelt zu sehen. Und doch weiß jeder: Ohne Deals wie diesen gäbe es keine Chance auf Rückkehr, keine Hoffnung auf Leben nach der Geiselhaft.
Helden oder Mörder – die doppelte Erzählung
Kamal Abu Schanab, einer der Freigelassenen, berichtet von Folter, Hunger und Erniedrigung. Sein abgemagerter Körper ist Symbol einer anderen Wahrheit – einer, die in Israel kaum jemand hören will. Für die einen ist er ein politischer Gefangener, für die anderen ein Mörder. Beide haben recht – je nachdem, auf welcher Seite der Mauer man steht.
Israel weist die Foltervorwürfe routiniert zurück, die palästinensische Öffentlichkeit erhebt sie mit der gleichen Routine. Die Wahrheit liegt, wie so oft, im Niemandsland dazwischen – dort, wo schon lange kein Dialog mehr stattfindet.
Ein Wiedersehen im Nichts
Was für die Hamas ein propagandistischer Sieg ist, entpuppt sich für viele Freigelassene als Tragödie: Sie kehren zurück in eine Welt aus Ruinen. Gaza gleicht einem Friedhof aus Beton. Der „Wiederaufbau“, den internationale Organisationen versprechen, ist nichts weiter als ein Wort auf Papier. Jahrzehnte wird es dauern, sagen die UN. In Wahrheit: vielleicht nie.
Israel zwischen Notwendigkeit und Albtraum
Dass Israel die Freilassung von 250 verurteilten Attentätern „zähneknirschend akzeptiert“ hat, ist diplomatisch ausgedrückt. Tatsächlich ist es ein nationaler Albtraum. Denn jeder Freigelassene ist nicht nur eine Wunde im kollektiven Gedächtnis, sondern potenziell der nächste Jahja Sinwar – jener Mann, der selbst 2011 im Schalit-Deal freikam und zwölf Jahre später den blutigsten Angriff auf Israel seit Jahrzehnten organisierte.
Kein Wunder also, dass Israel 154 der Entlassenen zwangsweise aus dem Land schaffte. „Nie wieder Rückkehr in die palästinensischen Gebiete“, heißt es. Eine Sicherheitsmaßnahme? Oder einfach die Hoffnung, die eigene Vergangenheit nicht wiederkehren zu lassen?
Ein Frieden aus Angst
Die internationale Gemeinschaft feiert den Deal als diplomatischen Erfolg. In Wahrheit ist er ein Friedensbruchstück, zementiert durch Erschöpfung und Zwang. Beide Seiten handeln nicht aus Vertrauen, sondern aus Angst – Angst, den nächsten Schlagabtausch zu verlieren, Angst, das Gesicht zu verlieren, Angst, dass alles wieder von vorne beginnt.
Und das wird es. Früher oder später.
Das Dilemma der Justiz
Israel ringt unterdessen mit der Frage, wie mit den nach dem 7. Oktober festgenommenen Palästinensern verfahren werden soll. Sondertribunal? Militärgericht? Normales Strafverfahren? Während Juristen debattieren, sitzen Hunderte in sogenannter „administrativer Haft“ – ohne Anklage, ohne Urteil, aber mit unbestimmtem Ende.
Für Palästinenser ist das die Essenz israelischer Willkür. Für Israel ist es ein notwendiger Akt der Selbstverteidigung. Beide Narrative schließen sich gegenseitig aus – und beide dienen dazu, das eigene Gewissen zu beruhigen.
Ein zerrissenes Symbol
Das Gaza-Abkommen zeigt, was der Nahostkonflikt längst geworden ist: ein Ritual des Leidens, in dem jedes Opfer, jede Freilassung, jede Träne politisch aufgeladen wird. Niemand gewinnt, alle verlieren – und die Welt schaut zu, als wäre es ein Theaterstück, das sich endlos wiederholt.
Fazit: Jubel ist flüchtig, Ernüchterung bleibt
Die Busse sind abgefahren, die Jubelchöre verhallt. Zurück bleibt ein Gefühl zwischen Erleichterung und Scham – bei Palästinensern wie Israelis. Denn die Freilassung mag Menschen befreien, aber sie befreit niemanden von der Wahrheit: dass dieser Konflikt nicht durch Deals gelöst wird, sondern durch das, was keiner wagt – Anerkennung der Menschlichkeit des anderen.
Bis dahin bleibt jeder Jubel nur der Schatten der nächsten Ernüchterung.
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