Am 27. Juni 2025 hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (U.S. Supreme Court) in einem weitreichenden Urteil entschieden, dass Eltern das Recht haben, ihre Kinder vom Unterricht in öffentlichen Schulen abzumelden, wenn dieser Inhalte enthält, die ihrer religiösen Überzeugung widersprechen. Im konkreten Fall ging es um Bücher mit LGBTQ+-Themen im Englischunterricht öffentlicher Schulen im Bundesstaat Maryland.
Hintergrund des Falls
Der Streit entbrannte in Montgomery County, Maryland, wo das Schulamt beschlossen hatte, Bücher mit Inhalten über gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Genderidentität in den Lehrplan aufzunehmen. Diese sollten Toleranz, Diversität und gesellschaftliche Realität widerspiegeln. Ursprünglich war Eltern gestattet worden, ihre Kinder vom Unterricht mit diesen Inhalten abzumelden. Später zog das Schulamt diese Möglichkeit zurück, da es zu organisatorischen Problemen und „erheblichen Störungen“ geführt habe.
Daraufhin klagten mehrere Eltern – unterstützt durch konservative und religiöse Interessensgruppen – mit dem Argument, die Schule verletze ihr Recht auf religiöse Erziehung und den Schutz der Familie. Sie beriefen sich dabei auf den Ersten Verfassungszusatz der Vereinigten Staaten, der unter anderem die freie Religionsausübung garantiert.
Das Urteil
Mit 6 zu 3 Stimmen entschieden die konservative Richtermehrheit am Supreme Court, dass das Schulamt durch die Abschaffung der Opt-out-Regelung die religiösen Rechte der Eltern verletzt habe. In der Urteilsbegründung führte Richter Samuel Alito aus, dass es ein „etabliertes Recht“ der Eltern gebe, die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu lenken. Die betreffenden Bücher würden eine „klare Haltung zu gleichgeschlechtlicher Ehe und Genderfragen“ vermitteln, was für religiöse Eltern einen „inakzeptablen Eingriff“ darstelle.
Die drei liberalen Richterinnen, angeführt von Sonia Sotomayor, stimmten dagegen. In ihrem Minderheitsvotum warnte Sotomayor vor „Chaos“ im Bildungssystem und betonte, öffentliche Schulen hätten den Auftrag, Schüler mit einer Vielzahl gesellschaftlicher Perspektiven vertraut zu machen. Sie warnte zudem, dass besonders benachteiligte Schulen in Zukunft aus Angst vor Klagen oder Unruhe möglicherweise auf wertvolle Bildungsinhalte verzichten könnten.
Reaktionen: Erleichterung, Sorge und Zerrissenheit
Die Reaktionen auf das Urteil sind erwartungsgemäß gespalten.
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Konservative Gruppen und Vertreter*innen religiöser Familien begrüßten die Entscheidung als längst überfälligen Schutz der Elternrechte.
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Liberale Organisationen, Bürgerrechtsgruppen und Lehrergewerkschaften hingegen sehen darin eine gefährliche Türöffner-Funktion für Zensur, Ausgrenzung und die Aushöhlung eines gemeinsamen Bildungsauftrags.
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LGBTQ+-Vertreter*innen äußerten Besorgnis, dass queere Themen erneut stigmatisiert würden und Kinder in intoleranten Haushalten womöglich keine Chance auf neutrale Informationen über Identität und Vielfalt erhielten.
Historische Parallelen
Das Urteil erinnert an frühere Gerichtsverfahren, in denen Eltern gegen Schulcurricula klagten:
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Mozert v. Hawkins County (1987): Evangelikale Eltern in Tennessee klagten gegen eine verpflichtende Leseliste, die aus ihrer Sicht gegen ihre religiösen Überzeugungen verstieß. Die Gerichte wiesen die Klage letztlich ab.
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Leebaert v. Harrington (2002): Ein Vater in Connecticut klagte dagegen, dass sein Sohn einen verpflichtenden Gesundheitsunterricht besuchen musste, obwohl er dies aus religiösen Gründen ablehnte. Auch diese Klage wurde abgewiesen.
Im Unterschied zu damals hat der Supreme Court nun jedoch zugunsten der Eltern entschieden – ein möglicher Wendepunkt in der Debatte um staatliche Bildungsinhalte und individuelle Rechte.
Wissenschaftliche und gesellschaftliche Bewertung
Bildungsrechtlerinnen und Soziologinnen warnen vor einem zunehmenden „Patchwork“ in der öffentlichen Schulbildung. Wenn jede religiöse oder ideologische Gruppe ihre eigenen Ausschlüsse geltend machen kann, könnte es schwer werden, einheitliche Lehrpläne aufrechtzuerhalten.
Stephen Bates, Professor und Autor eines Buches über Elternklagen in der Schulpolitik, erklärte:
„Die öffentliche Schule ist einer der letzten Orte, an dem Kinder unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen. Wenn dieser Raum zerfasert wird, verlieren wir ein wichtiges Stück gesellschaftlicher Integration.“
Andere, wie der inzwischen erwachsene Kläger Jason Mesiti aus einem früheren Fall, sehen sowohl Chancen als auch Risiken:
„Ich finde es richtig, dass Eltern ihre Werte vertreten dürfen. Aber Buchverbote und Angst vor Inhalten machen aus Schulen keine besseren Orte – sie machen sie leerer.“
Ausblick
Das Urteil hat möglicherweise Signalwirkung für andere Bundesstaaten und künftige Klagen. Es verpflichtet Schulen künftig dazu, Eltern weitreichendere Einspruchsrechte gegen als „kritisch“ empfundene Inhalte einzuräumen – etwa in den Bereichen Sexualität, Geschlechteridentität, Religion oder politische Weltanschauung.
Gleichzeitig bleibt offen, wie Schulen diesem neuen Spagat gerecht werden sollen: Bildungsauftrag versus Religionsfreiheit – das wird zunehmend zum Brennpunkt in Amerikas Kulturkampf.
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