Bayerisches Oberstes LandesgerichtAz.: 101 Kap 1/22 In dem Kapitalanleger-Musterverfahren Dipl.-Kfm. Ebert Kurt, Kelkheimer Straße 21, 65812 Bad Soden am Taunus Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Mattil & Kollegen, Thierschplatz 3, 80538 München, Gz.: 27/23KU/al/au Rechtsanwalt Dr. Vitt Elmar, Am Fuhrenkamp 16, 21376 Salzhausen gegen
Prozessbevollmächtigte zu 1: Rechtsanwältin Kalweit Katrin, Faustgäßchen 4, 99084 Erfurt, Gz.: 127/24 Rechtsanwältin Kraußlach Theres, c/o Bietmann Rechtsanwälte Steuerberater Prozessbevollmächtigte zu 2 bis 4, 9 und 11: LUTZ | ABEL Rechtsanwalts PartG mbB, Brienner Straße 29, 80333 München, Gz.: 00003E20 MZ/cobu; weiteres Gz.: 742023 NP/juni Prozessbevollmächtigte zu 8: SZA SCHILLING, ZUTT & ANSCHÜTZ Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Otto-Beck-Straße 11, 68165 Mannheim, Gz.: 677/23 Prozessbevollmächtigte zu 10: MELCHERS Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Im Breitspiel 21, 69126 Heidelberg, Gz.: 2277/23 Prozessbevollmächtigte zu 12: Rechtsanwalt Freiherr von Erffa Hubertus, Reichsstraße 15, 04109 Leipzig, Gz.: HUE/hgm Prozessbevollmächtigte zu 13: Rechtsanwälte Berner Fleck Wettich, Cecilienallee 17, 40474 Düsseldorf erlässt das Bayerische Oberste Landesgericht – 1. Zivilsenat – durch die Präsidentin des Bayerischen Obersten Landesgerichts Dr. Schmidt, die Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht Dr. Muthig, die Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht Dr. Schwegler, die Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht von Geldern-Crispendorf und den Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht Niklaus aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2024 folgenden Teil-Musterentscheid:
Gründe:A.In dem vorliegenden Kapitalanleger-Musterverfahren streiten die Parteien darüber, ob die Wirecard AG im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihrer Geschäftsberichte für die Jahre 2014 bis 2018 Pflichten im Rahmen der Kapitalmarktkommunikation verletzt hat, sowie darüber, ob die Musterbeklagte zu 2) als Abschlussprüferin bei der Überprüfung der Konzern-Rechnungslegung der Wirecard AG gegen Prüfpflichten verstoßen und sich durch die Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke zu den Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten für die vorgenannten Geschäftsjahre an fehlerhaften Kapitalmarktinformationen der Wirecard AG beteiligt bzw. selbst fehlerhafte Kapitalmarktinformationen getätigt hat. Die im Jahr 1999 gegründete Wirecard AG mit Sitz in 85609 Aschheim, Bayern, stand als Konzernmutter an der Spitze des Wirecard-Konzerns mit mehreren inländischen und ausländischen Tochterunternehmen. Ihr Unternehmensgegenstand bestand laut Handelsregistereintrag (Amtsgericht München, HRB 169227) unter anderem in der Entwicklung, Konzipierung und Realisierung von technischen Anwendungen, Dienstleistungen und Projektvorhaben im Bereich Zahlungssysteme sowie allen damit im Zusammenhang stehenden Geschäften, einschließlich des Erwerbs und der Vergabe von Lizenzen im Finanzdienstleistungsbereich. Von September 2018 bis August 2020 war die Gesellschaft im Deutschen Aktienindex (DAX) gelistet. Für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 veröffentlichte die Wirecard AG Geschäftsberichte, die jeweils unter anderem den Konzernlagebericht, den Konzernabschluss, den – für jedes der genannten Geschäftsjahre erteilten – uneingeschränkten Bestätigungsvermerk des Konzernabschlussprüfers sowie die Versicherung der gesetzlichen Vertreter (Konzern-Bilanz- und Konzern-Lageberichtseid) enthalten; hinsichtlich des Inhalts der Geschäftsberichte wird auf die Anlagen K 25a bis K 25e und die auf der Homepage der Wirecard AG jeweils eingestellten Dokumente verwiesen. In Reaktion auf Vorwürfe der Bilanzfälschung, die im Zusammenhang mit dem Drittpartnergeschäft („Third Party Acquiring“, im Folgenden auch „TPA-Geschäft“) gegen den Wirecard-Konzern erhoben worden waren, beauftragte die Wirecard AG Ende Oktober 2019 die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit einer unabhängigen Sonderprüfung. Am 27. April 2020 erstellte diese ihren Prüfungsbericht. Mit Ad-hoc-Mitteilung vom 22. Juni 2020 informierte die Wirecard AG darüber, dass der Vorstand derzeit davon ausgehe, dass die bisher zu Gunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestünden und die bisherigen Beschreibungen des Drittpartnergeschäfts durch die Gesellschaft unzutreffend seien. Drei Tage später, am 25. Juni 2020, stellte sie beim Amtsgericht München Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Mit Beschluss vom 25. August 2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Wirecard AG eröffnet. Der Musterbeklagte zu 1) war bis zu seinem Ausscheiden im Juni 2020 Vorstandsvorsitzender der Wirecard AG. Die Musterbeklagte zu 2) ist eine Wirtschaftsprüfergesellschaft, welche bis zu ihrer Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft als Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft firmierte. Diese war für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 von der Wirecard AG mit der Jahres- und Konzernabschlussprüfung beauftragt. Sie testierte die Konzernabschlüsse sowie Konzernlageberichte der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 jeweils mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk. Wegen des Wortlauts des Vermerks über die Prüfung des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts für das Geschäftsjahr 2014 vom 7. April 2015, des Vermerks für das Geschäftsjahr 2015 vom 6. April 2016, des Vermerks für das Geschäftsjahr 2016 vom 5. April 2017, des Vermerks für das Geschäftsjahr 2017 vom 11. April 2018 und des Vermerks für das Geschäftsjahr 2018 vom 24. April 2019 wird auf die Geschäftsberichte der Wirecard AG (vorgelegt als Anlagen K 25a bis K 25e sowie veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft) Bezug genommen. Die Musterbeklagten zu 3), 4), 9) und 11) waren im Rahmen der Abschlussprüfungen für unterschiedliche Berichtsjahre des Zeitraums 2014 bis 2018 als Wirtschaftsprüfer für die Musterbeklagte zu 2) tätig. Die ursprüngliche Musterbeklagte zu 7), die MB Beteiligungsgesellschaft mbH, hatte die Verwaltung eigenen Vermögens zum Gegenstand; ihr Geschäftsführer war – mit kurzzeitiger Unterbrechung – der Musterbeklagte zu 1). Mit Beschluss des Amtsgerichts Limburg a.d. Lahn vom 21. Februar 2024 (Az. 9 IN 20/24) wurden die vorläufige Verwaltung ihres Vermögens durch einen vorläufigen Insolvenzverwalter angeordnet und der Gesellschaft ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 22 InsO). Das gegen den (vorläufigen) Insolvenzverwalter als Rechtsnachfolger der ursprünglichen Musterbeklagten zu 7) gerichtete Kapitalanleger-Musterverfahren ist seither gemäß § 3 Abs. 1 EGZPO in Verbindung mit § 240 Satz 2 ZPO unterbrochen und bislang nicht aufgenommen worden. Durch Beschluss des Amtsgerichts Limburg a.d. Lahn vom 18. Juni 2024 ist über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Musterbeklagte zu 8) ist Insolvenzverwalter des Vermögens der Wirecard AG. Der Musterbeklagte zu 10) verfügte in der Wirecard AG und der Wirecard Bank AG zeitweise über Gesamtprokura gemeinsam mit einem Vorstandsmitglied oder einem anderen Prokuristen. Er leitete vormals eine Tochtergesellschaft der Wirecard AG in Dubai. Der Musterbeklagte zu 12) war Head of Accounting der Wirecard AG und verfügte über Gesamtprokura gemeinsam mit einem Vorstandsmitglied oder einem anderen Prokuristen. Das Erlöschen der Prokura wurde am 1. Juli 2020 im Handelsregister eingetragen. Der Musterbeklagte zu 13) war unter anderem Mitglied des Vorstands der Wirecard AG. Sein Ausscheiden wurde am 1. März 2018 im Handelsregister eingetragen. Der frühere Musterbeklagte zu 5) ist dadurch aus dem Musterverfahren ausgeschieden, dass in sämtlichen gegen ihn geführten Ausgangsverfahren, zu denen dem Bayerischen Obersten Landesgericht die Verfahrensaussetzung mitgeteilt worden war, nachträglich die Aussetzungsbeschlüsse aufgehoben worden sind. Das ursprünglich fälschlich als Musterbeklagter zu 6) geführte ehemalige Vorstandsmitglied der Wirecard AG ist nicht Partei des vorliegenden Musterverfahrens, da die Rechtsstreite, soweit sie gegen diese Person gerichtet waren, nicht ausgesetzt wurden, § 9 Abs. 5 KapMuG (in der bis zum 19. Juli 2024 geltenden Fassung, künftig: a. F.). In den ausgesetzten Ausgangsverfahren werden einzelne oder alle Musterbeklagten, zum Teil im Wege der Tabellenfeststellungsklage, auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Der Wirecard AG werden Pflichtverletzungen im Rahmen der Kapitalmarktinformation zur Last gelegt. Der Abschlussprüferin wird die Erstellung falscher Bestätigungsvermerke vorgeworfen. Mit Vorlagebeschluss vom 14. März 2022 (Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG, im Klageregister veröffentlicht am 16. März 2022), hat das Landgericht München I dem Bayerischen Obersten Landesgericht gemäß § 6 Abs. 1 KapMuG a. F. zahlreiche Feststellungsziele zur Herbeiführung eines Musterentscheids vorgelegt. Der Vorlagebeschluss ist am 15. März 2022 bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen. Der Senat hat mit Beschluss vom 13. März 2023 gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 KapMuG a. F. den Musterkläger bestimmt und dessen Bezeichnung gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. durch Veröffentlichung im Klageregister am 16. März 2023 bekannt gemacht. Zu den dort genannten Musterbeklagten sind infolge Aussetzung der gegen sie gerichteten Ausgangsverfahren die Musterbeklagten zu 9) und 10) (bekannt gemacht mit Beschluss vom 16. Oktober 2023, im Klageregister veröffentlicht am 19. Oktober 2023), der Musterbeklagte zu 11) (bekannt gemacht mit Beschluss vom 18. März 2024, im Klageregister veröffentlicht am 21. März 2024) und die Musterbeklagten zu 12) und 13) (bekannt gemacht mit Beschluss vom 14. August 2024, im Klageregister veröffentlicht am 19. August 2024) hinzugetreten. Mit Beschluss vom 22. Mai 2024 (im Klageregister veröffentlicht am 27. Mai 2024) hat der Senat das Ausscheiden des früheren Musterbeklagten zu 5) bekannt gemacht. Mit den Feststellungszielen unter Teil „A. (Haupttat)“ sollen Klärungen herbeigeführt werden, welche die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der Wirecard AG für die Jahre 2014 bis 2018 sowie die Verantwortlichkeit des Musterbeklagten zu 1) hierfür und daraus abgeleitete Verletzungen von Publizitätspflichten der Wirecard AG betreffen. Mit den Feststellungszielen unter Teil „B. Zur Frage von Teilnahme“ sollen Fragen in Bezug auf eine Teilnahme der Musterbeklagten zu 2) an Publizitätspflichtverletzungen der Wirecard AG im Rahmen der Ad-hoc- und Regelpublizität durch Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke zu den Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten der Wirecard AG für die Jahre 2014 bis 2018 geklärt werden. Die Teile „C. (Schaden und Kausalität)“ und „D. (Zur Zulässigkeit)“ betreffen damit im Zusammenhang stehende Fragen materiell-rechtlicher und prozessualer Art. Im Musterverfahren haben verschiedene Beteiligte beantragt, das Verfahren um zahlreiche weitere Feststellungsziele zu erweitern. Über die Zulassung dieser Erweiterungsanträge hat der Senat noch nicht entschieden. Gegenstand des Musterverfahrens sind derzeit allein die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses mit folgendem Wortlaut:
Im Vorlageschluss, auf den ergänzend verwiesen wird, wird hinsichtlich des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts und der darauf gestützten Vorwürfe ausgeführt: Die Wirecard AG habe in Ländern, in denen sie keine Lizenz als Zahlungsdienstleister gehabt habe, mit Partnerunternehmen zusammengearbeitet, um Zahlungen abzuwickeln. Die zugrunde liegenden Verträge hätten vorgesehen, dass die Partnerunternehmen Kreditkartentransaktionen für Kunden abwickelten, die durch die Wirecard AG vermittelt worden seien. Diese habe sich vertraglich gegenüber den Partnerunternehmen dazu verpflichtet, letztere von Vermögensverlusten, insbesondere solchen aus der Rückabwicklung von Zahlungsvorgängen aus Kreditkartentransaktionen, schadlos zu halten. Die Besicherung habe über treuhänderisch verwaltete „Barsicherheiten“ auf Treuhandkonten erfolgen sollen. Das „Third Party Acquiring“ (TPA) sei über die Wirecard UK & Ireland Ltd. mit Sitz in Dublin, die Wirecard Technologies GmbH mit Sitz in Aschheim sowie die Cardsystems Middle East FZ LLC mit Sitz in Dubai abgewickelt worden. Diese Gesellschaften hätten das TPA-Geschäft mit den Partnern Al Alam Solution Provider FZ-LLC mit Sitz in Dubai, Senjo Payments Asia Pte. Ltd. mit Sitz in Singapur sowie PayEasy Solutions Inc. mit Sitz in Metro Manila betrieben. Im Rahmen des TPA-Geschäfts seien Umsatzerlöse von Wirecard fingiert worden. Im Geschäftsjahr 2015 hätten sich fingierte Gelder in Höhe von 113,5 Mio. Euro auf Treuhandkonten befunden; darüber hinaus seien 250 Mio. Euro an Forderungen fingiert gewesen. Damit sei der Geschäftsbericht des Jahres 2015 grob unrichtig gewesen. Fingierte Umsatzerlöse und fingierte Forderungen hätten in den Folgejahren zugenommen. Für das Geschäftsjahr 2016 seien „Anlage-(Brutto-)Umsatzerlöse“ in Höhe von ca. 541 Mio. Euro gegenüber den drei genannten TPA-Partnern fingiert gebucht worden, für das Geschäftsjahr 2017 917,63 Mio. Euro sowie für das Geschäftsjahr 2018 1.302,221 Mio. Euro. Im Jahr 2020 hätten sich schließlich allein auf den Treuhandkonten fingierte 1,9 Mio. (recte: Mrd.) Euro befunden. Für betrügerische Handlungen der Wirecard AG sei der Musterbeklagte zu 1) als deren Vorstandsvorsitzender verantwortlich. Die Musterbeklagte zu 2) habe ihre Aufgabe als Abschlussprüferin unter Verletzung der Prüfungsstandards nicht ausreichend wahrgenommen. Die hohen Gewinne von „Wirecard“ mit dem TPA-Geschäft seien unplausibel gewesen. In Singapur sei eine Treuhänderin namens Citadelle Corporate Services Pte. Ltd. eingesetzt gewesen, deren Inhaber in Singapur eine Tanzbar betrieben habe. Die Musterbeklagte zu 2) habe die Verlässlichkeit des Treuhänders nicht hinterfragt. Sie habe im Jahr 2015 selbst gegenüber der Wirecard AG angeregt, „das Problem nicht bezahlter Forderungen“ mithilfe von Treuhandkonten zu lösen, und gleichzeitig „diese Gelder auf den Treuhandkonten“ als Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente akzeptiert. Dadurch sei für bilanzkundige Leser der unzutreffende Eindruck entstanden, dass Wirecard über eine große Menge „an Bargeld“ verfüge. Zudem seien die Treuhandkonten falsch bilanziert gewesen. Von 2016 bis 2018 habe die Wirecard AG keine Saldenbestätigungen für Treuhandkonten über rund 1 Mrd. Euro vorlegen können. Die Musterbeklagte zu 2) habe öffentlich geäußerte Vorwürfe ignoriert. Sie habe nicht einmal die Echtheit und Existenz von Kontoauszügen von Treuhandkonten bzw. Banksaldenbestätigungen geprüft. Risiken sowie das unangemessene Risikomanagementsystem für das TPA-Geschäft habe sie niemals hinterfragt. In Bezug auf das „Indien-Geschäft von Wirecard“ habe ein Informant im Jahr 2016 die Musterbeklagte zu 2) über massive Unregelmäßigkeiten in Kenntnis gesetzt, insbesondere davon, dass leitende Mitarbeiter von „Wirecard“ möglicherweise Betrug begangen haben könnten. Unter dem Codenamen „Projektring“ habe die Musterbeklagte zu 2) eine Untersuchung durch ihr „EY Fraud Team“ durchgeführt; die Feststellungen des Fraud Teams seien vom Prüfungsteam der Musterbeklagten zu 2) für das Jahr 2017 nicht ordnungsgemäß geprüft worden. Dem Verdacht hätte die Musterbeklagte zu 2) weiter nachgehen müssen, insbesondere hätte sie über diese Angelegenheit im Bestätigungsvermerk Angaben machen und aufklären müssen. Auch hätte zwingend offengelegt werden müssen, dass es „Wirecard“ an einem internen Kontrollsystem gemangelt habe. Die Musterbeklagte zu 2) habe der Wirecard AG vorsätzlich für die Jahre 2015 bis 2018 falsche Bestätigungsvermerke erteilt. Verwiesen werde klägerseits unter anderem auf den „Abschlussbericht des dritten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags vom 22.06.2021“ einschließlich des von den Ermittlungsbeauftragten erstellten sogenannten „Wambach-Berichts“ und auf den im Auftrag der Wirecard AG erstellten sogenannten KPMG-Bericht. In rechtlicher Hinsicht wird in der Begründung des Vorlagebeschlusses in Bezug auf die Zulässigkeit der zugrunde liegenden Musterfeststellungsanträge ausgeführt, der Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes sei eröffnet, weil es sich bei den Geschäftsberichten 2014 bis 2018 und den Bestätigungsvermerken um öffentliche Kapitalmarktinformationen im Sinne von § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 KapMuG (a. F.) handele. Der Senat hat mit Beschluss vom 13. März 2023 darauf hingewiesen, dass die in den Vorlagebeschluss aufgenommenen Feststellungsziele – auch in der gebotenen Gesamtschau mit der Darstellung des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts – jedenfalls zum Teil nicht hinreichend bestimmt sein dürften. Mit Beschluss vom 5. Juni 2024 hat der Senat angeordnet, dass über die Zulässigkeit der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14. März 2022 (Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG) abgesondert verhandelt wird, und dies durch Veröffentlichung im Klageregister am 10. Juni 2024 bekannt gemacht. Der Termin zur abgesonderten Verhandlung wurde am 10. Juni 2024, der Ort der Verhandlung am 10. September 2024 festgelegt und durch Veröffentlichung im Klageregister am 10. Juni 2024 bzw. 16. September 2024 bekannt gemacht. Wegen des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2024 wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. B.Der Senat weist die unstatthaften oder aus anderen Gründen unzulässigen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses durch einen Teil-Musterentscheid zurück. Der Teil-Musterentscheid ergeht nicht gegenüber dem Musterbeklagten zu 7), gegen den das Musterverfahren aufgrund des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der ursprünglichen Musterbeklagten zu 7) unterbrochen ist (§ 3 Abs. 1 EGZPO i. V. m. § 240 ZPO), und entfaltet keine Bindungswirkung für die gegen die ursprüngliche Musterbeklagte zu 7) eingeleiteten und nach § 8 Abs. 1 KapMuG a. F. ausgesetzten Ausgangsverfahren. Die im Tenor unter Ziffer I aufgeführten Feststellungsziele sind unstatthaft. Die Feststellungsziele in Abschnitt B des Vorlagebeschlusses sind jeweils auf die Feststellung anspruchsbegründender Voraussetzungen von Schadensersatzansprüchen gegen die Musterbeklagte zu 2) im Zusammenhang mit der im Rahmen von Pflichtprüfungen nach §§ 316 ff. HGB erfolgten Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke zu den Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 gerichtet, welche nicht in den Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. fallen. Entsprechendes gilt für das Feststellungsziel C, soweit die begehrte Feststellung sich auf Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) bezieht. Unstatthaft ist auch das Feststellungsziel A II 4 a, soweit es auf die Feststellung gerichtet ist, dass § 400 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AktG a. F. Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB darstellen, denn die zugrunde liegenden Schadensersatzansprüche fallen nicht in den Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes. Die unter Ziffer II des Tenors genannten Feststellungsziele sind unzulässig. Sie genügen entweder nicht den Bestimmtheitsanforderungen oder für die begehrte Feststellung fehlt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis oder es handelt sich nicht um taugliche Feststellungsziele im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. I.Das Bayerische Oberste Landesgericht ist für das vorliegende Kapitalanleger-Musterverfahren, auf das das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in seiner bis einschließlich 19. Juli 2024 geltenden Fassung anwendbar ist, zuständig.
II.Entgegen der von der Musterbeklagten zu 2) im Schriftsatz vom 31. Oktober 2023 vertretenen Ansicht ist das Musterverfahren nicht deshalb insgesamt unzulässig, weil keine zehn gleichgerichteten Musterverfahrensanträge gegen den Musterbeklagten zu 1) vorgelegen hätten oder die Klage in dem Ausgangsrechtsstreit vor dem Landgericht München I mit dem Aktenzeichen 3 O 5875/20, in dem der Musterverfahrensantrag gestellt worden ist, unschlüssig und der Ausgangsrechtsstreit damit entscheidungsreif gewesen wäre. Die Überprüfung der damit als fehlend gerügten Vorlagevoraussetzungen ist dem für das Musterverfahren zuständigen Gericht aufgrund seiner Bindung an den Vorlagebeschluss (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F.) entzogen. Nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers soll das mit einem Musterverfahren befasste Gericht nicht dazu berufen sein, die Vorlagevoraussetzungen zu prüfen (vgl. BGH, Beschl. v. 9. März 2017, III ZB 135/15, WM 2017, 706 Rn. 9 unter Verweis auf BT-Drs. 15/5091, S. 23 zu § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG in der bis 1. November 2012 gültigen Erstfassung; Reuschle in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, § 6 KapMuG Rn. 25). Für die am 1. November 2012 in Kraft getretene Neufassung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes ist ein geänderter Wille des Gesetzgebers nicht zu erkennen (BGH a. a. O. unter Verweis auf BT-Drs. 17/8799, S. 19 f.). III.Die mit Senatsbeschluss vom 5. Juni 2024 getroffene Anordnung, dass über die Zulässigkeit der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14. März 2022 (Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG) abgesondert verhandelt wird, findet ihre Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. in Verbindung mit § 280 Abs. 1 ZPO analog. Auf das Musterverfahren sind die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung (§§ 253 ff. ZPO) entsprechend anzuwenden, soweit nichts anderes bestimmt ist. Die Vorschrift des § 280 ZPO wird in § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. nicht von der Anwendbarkeit ausgenommen. IV.Die im Musterverfahren nicht statthaften oder aus anderen Gründen unzulässigen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses können durch Teil-Musterentscheid zurückgewiesen werden. Dem steht auch nicht entgegen, dass Verfahrensbeteiligte die Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele beantragt haben und der Senat über diese Erweiterungsanträge noch nicht durch Beschluss nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. entschieden hat. Die weiteren Feststellungsziele, um die das Musterverfahren nach den Anträgen mehrerer Verfahrensbeteiligter erweitert werden soll, sind derzeit nicht Gegenstand des Musterverfahrens.
V.Die in Abschnitt B des Vorlagebeschlusses enthaltenen Feststellungsziele sowie das Feststellungsziel D 1 sind unstatthaft, weil damit das Vorliegen anspruchsbegründender Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) im Zusammenhang mit deren Tätigkeit als Abschlussprüferin für die Wirecard AG im Rahmen von Pflichtprüfungen nach §§ 316 ff. HGB festgestellt werden soll, welche nicht in den Anwendungsbereich des – im vorliegenden Fall allein in Betracht kommenden – § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. fallen. Entsprechendes gilt für das Feststellungsziel C, soweit dieses sich auf gegen die Musterbeklagte zu 2) geltend gemachte Schadensersatzansprüche bezieht. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F.) verwehrt dem Senat nicht die Überprüfung, ob ein darin enthaltenes Feststellungsziel Gegenstand eines Kapitalanleger-Musterverfahrens sein kann (dazu 1.). Die Feststellungsziele des Abschnitts B sind dahin auszulegen, dass sie ausschließlich auf die Feststellung anspruchsbegründender Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) wegen Beihilfe zu kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzungen der Wirecard AG gerichtet sind (dazu 2. b]). Insoweit fehlt es an dem von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. vorausgesetzten unmittelbaren Bezug der geltend gemachten Schadensersatzpflicht der Musterbeklagten zu 2) zu der jeweils als falsch, irreführend oder unterblieben beanstandeten öffentlichen Kapitalmarktinformation der Wirecard AG (dazu 3. b]). Die Feststellungsziele C und D 1 beziehen sich nach dem Ergebnis der Auslegung (dazu 2. c] und d]) jeweils auch auf gegen die Musterbeklagte zu 2) geltend gemachte Schadensersatzansprüche wegen täterschaftlich begangener Delikte durch Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke über die Prüfung der Konzernabschlüsse und Konzernlageberichte der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 im Rahmen einer Pflichtprüfung nach §§ 316 ff. HGB. Auch insoweit fehlt es an dem erforderlichen unmittelbaren Bezug der geltend gemachten Schadensersatzpflicht zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation, weil es sich bei dem Bestätigungsvermerk nicht um eine öffentliche Kapitalmarktinformation des Abschlussprüfers handelt (dazu 3. a]).
VI.Mit dem Feststellungsziel A II 4 a wird die Feststellung begehrt, dass § 400 AktG (in der bis einschließlich 31. Dezember 2019 geltenden Fassung, im Folgenden: a. F.) Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sei. Dieses Feststellungsziel ist unstatthaft, soweit die Schutzgesetzeigenschaft von § 400 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AktG a. F. festgestellt werden soll, weil die der zu klärenden Rechtsfrage zugrunde liegenden Schadensersatzansprüche nicht in den Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes fallen.
VII.Die im Beschlusstenor unter Ziffer II aufgeführten Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses sind – mit Ausnahme der infolge fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässigen Feststellungsziele A II 3 a, A II 4 a und D 2 (dazu VIII.) – mangels Bestimmtheit gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. in Verbindung mit § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO als unzulässig zurückzuweisen. Mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig sind auch die ohnehin unstatthaften Feststellungsziele des Abschnitts B des Vorlagebeschlusses mit Ausnahme der für sich genommen den Bestimmtheitsanforderungen genügenden Unterfeststellungsziele B III 1 a und b.
VIII.Für die Feststellungsziele A II 3 a, A II 4 a, soweit letzteres die Schutzgesetzeigenschaft von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG a. F. zum Gegenstand hat, und D 2 des Vorlagebeschlusses fehlt es an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
IX.Wie unter IV. 3. a) dargelegt, sieht der Senat vom Erlass eines Zwischenentscheids über die von ihm als zulässig beurteilten Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses ab. Die von den Verfahrensbeteiligten erhobenen Bedenken gegen die Zulässigkeit der folgenden Feststellungsziele teilt der Senat nicht.
C.Eine Kostenentscheidung nicht veranlasst. Über die im Musterverfahren angefallenen Kosten entscheidet das jeweilige Prozessgericht (§ 16 Abs. 2 KapMuG a. F.). D.Es ergeht folgende Rechtsmittelbelehrung:Gegen diese Entscheidung kann Rechtsbeschwerde eingelegt werden (§ 20 Abs. 1 KapMuG a. F.). Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Notfrist von einem Monat bei dem
einzulegen. Die Frist beginnt mit der Zustellung der Entscheidung. Die Rechtsbeschwerde wird durch Einreichen einer Rechtsbeschwerdeschrift eingelegt. Die Rechtsbeschwerdeschrift muss die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung und die Erklärung enthalten, dass gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde eingelegt werde. Die Beteiligten müssen sich durch eine bei dem Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwältin oder einen dort zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen. Die Rechtsbeschwerde ist zudem binnen einer Frist von einem Monat zu begründen. Die Frist beginnt ebenfalls mit der Zustellung der angefochtenen Entscheidung. Rechtsbehelfe können auch als elektronisches Dokument eingereicht werden. Eine einfache E-Mail genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht. Rechtsbehelfe, die durch eine Rechtsanwältin, einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, sind ab 1. Januar 2022 als elektronisches Dokument einzureichen, es sei denn, dass dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist. In diesem Fall bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig, wobei die vorübergehende Unmöglichkeit bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen ist. Auf Anforderung ist das elektronische Dokument nachzureichen. Das elektronische Dokument muss
Ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen ist, darf wie folgt übermittelt werden:
Wegen der sicheren Übermittlungswege wird auf § 130a Absatz 4 der Zivilprozessordnung verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen zur elektronischen Kommunikation mit den Gerichten wird auf die Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) in der jeweils geltenden Fassung sowie auf die Internetseite https://justiz.de verwiesen.
Verkündet am 28. Februar 2025Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle |
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