Immer wieder erschüttern Amokläufe Schulen und öffentliche Orte – in den USA ebenso wie in Europa. Jahrzehntelang galt in der Polizeiarbeit das Prinzip der Zurückhaltung: Erst sichern, dann auf das Spezialkommando warten. Doch immer wieder zeigte sich, dass genau dieses Zögern Menschenleben kosten kann. Inzwischen hat sich die Taktik grundlegend geändert – mit Folgen auch für Deutschland.
In den USA entstand nach dem Schulmassaker von Columbine im Jahr 1999 das Konzept des sogenannten Immediate Action Rapid Deployment (IARD): Die ersten eintreffenden Einsatzkräfte greifen sofort ein, notfalls allein. Sie sollen den Täter so schnell wie möglich stellen oder ausschalten, um weitere Opfer zu verhindern. Programme wie „ALERRT“ aus Texas wurden ab den 2000er-Jahren zum landesweiten Standard.
Diese Strategie ist riskant – und verlangt Polizistinnen und Polizisten extrem viel ab. „Das Ziel ist, die Gefahr unmittelbar zu stoppen, auch wenn man dabei das eigene Leben riskiert“, erklärt ein Ausbilder eines Trainingszentrums. In den Übungen hallen Schüsse, Rauch zieht durch die Gänge, Pappfiguren stellen bewaffnete Täter dar. Der Druck ist enorm, denn jeder Fehler kann im Ernstfall tödlich sein.
Trotz der neuen Standards wird die Methode nicht überall konsequent umgesetzt. Das zeigte 2022 der Amoklauf in Uvalde, Texas, besonders drastisch: 376 Beamte warteten über eine Stunde, während ein 18-Jähriger 21 Menschen tötete. Die Aufnahmen der Überwachungskameras, die später veröffentlicht wurden, lösten international Entsetzen aus.
Auch in Deutschland hat sich das Einsatzkonzept in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Nach den Tragödien von Winnenden, Hamburg und jüngst Essen gilt: Die erste Streife vor Ort greift ein. „Die alte Strategie, Gebäude zu umstellen und auf Spezialkräfte zu warten, wird nicht mehr angewendet“, heißt es aus Polizeikreisen. Heute gehe es darum, den Täter sofort unter Druck zu setzen und sein Handeln zu unterbrechen – durch schnelles, entschlossenes Vorgehen.
Dafür wurde die Ausrüstung angepasst: Streifenwagen führen inzwischen ballistische Schutzwesten, moderne Waffen und Spezialausrüstung wie Schutzdecken oder mobile Schilde mit. Hinzu kommen digitale Alarm- und Kommunikationssysteme, die Informationen schneller bündeln.
Dennoch bleiben die Einsätze extrem belastend. Das Risiko, selbst verletzt zu werden, ist hoch. Viele Täter beenden die Situation mit einem Suizid, sobald sie mit unmittelbarem Widerstand konfrontiert sind. Die psychologische Belastung für die Einsatzkräfte ist enorm – ebenso wie die für Schulen und Gemeinden, die nach solchen Taten oft jahrelang mit den Folgen leben müssen.
Deutschland setzt im Unterschied zu den USA weiterhin auf Prävention und Deeskalation: Frühwarnsysteme, Gefährdungsanalysen, psychologische Schulungen und eine enge Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen sollen helfen, mögliche Täter frühzeitig zu erkennen.
Eines aber ist überall gleich: Die Realität solcher Taten bleibt brutal. Keine Taktik kann sie völlig verhindern. Doch der Wandel im Denken – weg vom Warten, hin zum schnellen Handeln – zeigt, wie Polizei und Gesellschaft versuchen, aus schmerzhaften Erfahrungen zu lernen. In einer Welt, in der die Gefahr allgegenwärtig scheint, wird Mut zur wichtigsten Waffe.
Kommentar hinterlassen