Die sicherheitspolitische Lage in Europa hat sich grundlegend gewandelt. Die einst unerschütterliche Zusage der USA, den Kontinent gegen Russland zu verteidigen, erscheint unter der Präsidentschaft von Donald Trump zunehmend unsicher. Statt einer bedingungslosen Schutzgarantie setzt Washington verstärkt auf eine transaktionale Politik.
Europa steht damit vor einer entscheidenden Frage: Kann und muss es seine eigene nukleare Abschreckung stärken?
Europas nukleare Optionen
Traditionell wird die nukleare Abschreckung Europas durch die USA im Rahmen der NATO garantiert. Doch Frankreich und Großbritannien verfügen ebenfalls über eigene Atomwaffenarsenale – Frankreich besitzt rund 290 Sprengköpfe, Großbritannien etwa 225 US-gefertigte Trident-Raketen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Idee eines europäischen „nuklearen Schutzschirms“ an Bedeutung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte kürzlich an, die Debatte über eine mögliche nukleare Absicherung europäischer Partner zu eröffnen. Auch Deutschlands wahrscheinlicher künftiger Kanzler Friedrich Merz sprach sich für Gespräche mit Frankreich und Großbritannien über eine Ausweitung des Schutzes aus.
Polens Ministerpräsident Donald Tusk begrüßte die französische Initiative und betonte, dass diese Idee bereits mehrfach diskutiert worden sei. Sogar Länder mit traditionell kritischer Haltung gegenüber Atomwaffen, wie Schweden und Dänemark, signalisierten Interesse an Macrons Vorstoß.
Frankreichs nukleare Strategie: Souveränität mit Bedingungen
Frankreichs Nuklearstreitkräfte sind seit ihrer Gründung unter General Charles de Gaulle strikt autonom. Macron unterstrich, dass Frankreichs Atomwaffenprogramm „vom Anfang bis zum Ende französisch“ sei und die Entscheidung über ihren Einsatz allein in seinen Händen liege. Dennoch sei er offen für eine engere Zusammenarbeit mit europäischen Partnern, etwa durch deren Teilnahme an französischen Nuklearübungen.
Im Gegensatz zu Frankreich hat Großbritannien bislang kein vergleichbares Angebot zur Ausweitung seiner nuklearen Abschreckung gemacht. Seine Atomwaffen sind jedoch in die NATO-Planung eingebunden und tragen bereits zur strategischen Abschreckung Europas bei.
Hoffnung auf US-Unterstützung bleibt
Trotz dieser Bestrebungen setzen einige Länder weiterhin auf die USA. Polens Präsident Andrzej Duda forderte kürzlich, dass die USA Atomwaffen in Polen stationieren – eine Reaktion auf Russlands Entscheidung, Nuklearwaffen in Belarus zu platzieren.
Gleichzeitig gibt es Anzeichen dafür, dass Washington seine nukleare Präsenz in Europa ausbaut: Laut einem Bericht der Federation of American Scientists könnten die USA nach über 15 Jahren erstmals wieder Atomwaffen auf ihrer Luftwaffenbasis in Großbritannien stationieren.
Herausforderungen für einen europäischen Nuklearschirm
Ein europäischer Nuklearschirm wäre mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Frankreichs Atomarsenal ist im Vergleich zu dem der USA oder Russlands relativ klein und traditionell auf eine „strategische Vergeltung“ ausgelegt – also auf eine massive Reaktion im Ernstfall. Die USA hingegen verfügen über eine größere Bandbreite an Atomwaffen und können eine „graduelle Eskalation“ steuern, etwa durch gezielte Einzelangriffe.
Zudem fehlt vielen europäischen Staaten eine tiefgehende „nukleare Kultur“. Sie haben sich bisher auf die USA verlassen und müssten sich erst intensiv mit den strategischen und operativen Aspekten eines eigenen Abschreckungssystems auseinandersetzen.
Macrons Vorschlag könnte hier ansetzen: Er hat angedeutet, dass Frankreich europäische Partner in seine geheimen Nuklearübungen einbinden könnte, um sie mit den Abläufen und Entscheidungen im Ernstfall vertraut zu machen.
Konventionelle Aufrüstung als Ergänzung zur Abschreckung
Ein rein nuklearer Schutzschirm reicht jedoch nicht aus, um Russland abzuschrecken. Auch die konventionellen Streitkräfte müssen gestärkt werden. Einige europäische Länder haben ihre Militärausgaben bereits massiv erhöht.
Großbritannien beispielsweise hat in den letzten Jahren mit Pannen bei Nukleartests zu kämpfen und setzt nun auf das „größte Verteidigungsinvestitionsprogramm seit dem Kalten Krieg“. Auch nicht-nukleare NATO-Staaten wie Deutschland und Polen steigern ihre Verteidigungsbudgets erheblich.
Fazit: Europas schwierige Suche nach Sicherheit
Die Frage nach der künftigen nuklearen Abschreckung Europas bleibt offen. Während Frankreich und Großbritannien eigene Fähigkeiten besitzen, bleibt die Verlässlichkeit der USA unter Trump ungewiss. Ein europäischer Nuklearschirm könnte eine Lösung sein, würde jedoch Jahre oder sogar Jahrzehnte an Investitionen und strategischer Anpassung erfordern.
Die kommenden Monate dürften zeigen, ob Europa eine gemeinsame Strategie findet – oder ob es weiterhin auf die USA hofft, trotz aller Unsicherheiten.
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