Haarausfall könnte in Südkorea künftig mehr sein als eine private Angelegenheit. Präsident Lee Jae Myung hat die Regierung angewiesen zu prüfen, ob Behandlungen gegen Haarverlust künftig von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden sollen. Für junge Menschen sei Haarausfall längst kein rein kosmetisches Problem mehr, sondern könne existenzielle Auswirkungen haben, erklärte der Präsident.
Bislang greift die staatliche Krankenversicherung nur dann, wenn der Haarverlust eindeutig medizinisch bedingt ist, etwa durch Krankheiten oder Behandlungen. Eine Ausweitung auf alters- oder stressbedingten Haarausfall wäre ein deutlicher Systemwechsel. Lee Jae Myung hatte diese Forderung bereits während seines Präsidentschaftswahlkampfs erhoben, sie nach öffentlicher Kritik jedoch wieder zurückgestellt. Nun bringt er das Thema erneut auf die politische Agenda.
Schönheitsnormen als gesellschaftlicher Maßstab
Der Vorstoß ist eng mit den gesellschaftlichen Realitäten in Südkorea verknüpft. Das Land gilt als eines der weltweit strengsten Pflaster, wenn es um äußere Erscheinung geht. Attraktivität wird häufig mit beruflichem und sozialem Erfolg verknüpft. Eine verbreitete Redensart bringt diese Haltung drastisch auf den Punkt: Intelligenz sei verzeihlich, mangelnde Schönheit hingegen nicht.
Besonders Frauen stehen seit Jahren im Fokus dieses Schönheitsdrucks. Südkorea weist eine der höchsten Raten an Schönheitsoperationen pro Kopf weltweit auf. Doch auch Männer sind zunehmend betroffen – wenn auch weniger offen. Haarausfall gilt gerade bei jungen Männern als Karrierekiller und soziale Hypothek.
Milliardenmarkt trotz Tabuthema
Dass Haarausfall längst kein Randthema mehr ist, zeigt auch der wirtschaftliche Aspekt. Der Markt für entsprechende Behandlungen wächst stetig. Medienberichten zufolge erreichte er im vergangenen Jahr ein Volumen von umgerechnet mehr als 100 Millionen Euro. Medikamente, Spezialkliniken und Online-Angebote boomen – meist finanziert aus eigener Tasche.
Eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse würde für viele Betroffene eine erhebliche Entlastung bedeuten. Zugleich würde sie den gesellschaftlichen Stellenwert des Problems deutlich anheben.
Krankenkasse unter Druck
Kritik entzündet sich jedoch am Zeitpunkt des Vorstoßes. Südkoreas gesetzliche Krankenversicherung steht vor erheblichen finanziellen Problemen. Prognosen zufolge droht dem System bereits in wenigen Jahren ein Milliardenloch. Schon ab 2026 könnte ein Defizit entstehen, das die Stabilität der Kasse gefährdet.
Vor diesem Hintergrund warnen Kritiker vor einer Ausweitung des Leistungskatalogs. Sie fürchten, dass zusätzliche Leistungen die finanzielle Schieflage weiter verschärfen könnten.
Ärzteverbände warnen vor falschen Prioritäten
Auch aus der Ärzteschaft kommt deutlicher Widerspruch. Die Korean Medical Association sieht den Vorschlag kritisch. Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung sollten vorrangig für lebensbedrohliche Erkrankungen wie Krebs oder schwere chronische Leiden eingesetzt werden, argumentiert der Verband. Haarausfall falle nicht in diese Kategorie.
Symbolpolitik oder gesellschaftlicher Wandel?
Ob der Vorstoß tatsächlich in eine Gesetzesänderung mündet, ist offen. Die Prüfung durch die Regierung dürfte nicht nur medizinische, sondern vor allem finanzielle und gesellschaftspolitische Fragen aufwerfen. Klar ist jedoch: Die Debatte berührt einen wunden Punkt der südkoreanischen Gesellschaft.
Zwischen Leistungsdruck, Schönheitsnormen und sozialer Realität stellt sich die Grundsatzfrage, was eine Krankenversicherung leisten soll – und wo die Grenze zwischen medizinischer Notwendigkeit und gesellschaftlichem Erwartungsdruck verläuft.
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