Was in den Nächten über Kiew zur erschreckenden Realität geworden ist – Sirenen, das Surren russischer Kamikazedrohnen und Explosionen – scheint sich in abgeschwächter Form auch in anderen Teilen Europas zu wiederholen: Unbekannte Drohnen, häufig nachts gesichtet, tauchen vermehrt über Flughäfen, Militärbasen und kritischer Infrastruktur in mehreren NATO-Staaten auf. Die Angst vor einem neuen Kapitel hybrider Kriegsführung wächst.
Obwohl es sich in Westeuropa bislang nicht um bewaffnete Systeme handelt, gibt es zunehmend Hinweise auf systematische Erkundungsflüge. Insbesondere Belgien, Dänemark, Polen, Deutschland, Norwegen und die baltischen Staaten berichten von unerklärlichen Drohnenaktivitäten. Sicherheitsexperten vermuten dahinter russische Aufklärungsoperationen – auch wenn Moskau eine Beteiligung stets zurückweist.
Ein Weckruf: Drohnenangriff auf Polen
Am 9. September erreichten rund 20 russische Drohnen irrtümlich oder absichtlich polnischen Luftraum, was zur Schließung mehrerer Flughäfen führte. Teile der Drohnen wurden von NATO-Kampfflugzeugen abgeschossen, andere stürzten in verschiedenen Regionen Polens ab. Es war der bislang schwerwiegendste Luftraumverstoß seit Beginn des Ukrainekriegs.
Seither wird über eine koordinierte europäische Reaktion diskutiert – insbesondere den Aufbau eines sogenannten „Drohnenwalls“ entlang der östlichen Außengrenzen Europas.
Was ist der „Drohnenwall“?
Das Konzept sieht ein mehrschichtiges Abwehrsystem vor, das aus Sensoren, Radaren, elektronischen Störsystemen (Jamming) und Waffen zur Drohnenabwehr besteht. Ziel ist es, eindringende Flugobjekte frühzeitig zu erkennen, zu verfolgen und notfalls zu zerstören. Erste Komponenten sollen ab 2027 in Betrieb gehen, insbesondere in Ländern mit direkter Grenze zu Russland wie Polen, Finnland oder Estland.
Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass ein solches System niemals lückenlos funktionieren könne – zu groß ist der geografische Raum, zu schnell entwickelt sich die Drohnentechnologie weiter. Die Sicherheitsexpertin Katja Bego vom Think Tank Chatham House betont:
„Man kann keinen vollkommen undurchdringbaren Wall bauen – aber man kann die Hürden für Angriffe erhöhen.“
Gefahr durch zivile Tarnung
Besonders beunruhigend: Viele der über Europa gesichteten Drohnen wirken auf den ersten Blick zivil – kleine, handelsübliche Modelle ohne Bewaffnung. Ihre wahre Aufgabe sei jedoch oft Aufklärung, Überwachung oder gezielte Störung. In Belgien etwa, wo die NATO, die EU und bedeutende Finanzinstitute wie Euroclear ihren Sitz haben, wurden kürzlich Drohnen über Flughäfen und einem Militärstützpunkt gesichtet. Der zeitliche Zusammenhang mit der Debatte über eingefrorene russische Vermögen in Belgien lässt Beobachter aufhorchen.
Militärische und politische Dimension
Ein Team britischer RAF-Spezialisten wurde nach Belgien entsandt, um bei der Abwehr zu helfen. Auch die NATO untersucht entsprechende Vorfälle genau. Dennoch bleibt unklar, ob es sich bei den Drohnenflügen um koordinierte Operationen aus Russland handelt oder ob Drittparteien oder sogenannte „Proxys“ beteiligt sind.
Die dänische Premierministerin Mette Frederiksen erklärte im Oktober:
„Aus europäischer Sicht gibt es nur ein Land, das bereit ist, uns zu bedrohen – und das ist Russland.“
Militärische Antwort oder technologische Rüstung?
Die Frage, ob man die Startpunkte der Drohnen direkt angreifen sollte – getreu dem Prinzip „Schieße auf den Bogenschützen, nicht auf den Pfeil“ – bleibt brisant. Ein solcher Schritt würde eine erhebliche Eskalation darstellen und könnte die NATO in einen offenen Konflikt mit Russland ziehen.
Admiral Giuseppe Cavo Dragone, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, bezeichnete Luftverteidigung unlängst als die derzeit oberste Priorität der Allianz.
Abwehrstrategien: Jamming, Laser und Raketen
Die militärischen Abwehrmechanismen gegen Drohnen reichen von Radar- und Infrarotsensorik über Laserwaffen bis hin zu elektronischer Kriegsführung. Dabei unterscheidet man zwischen „Hard Kill“ (Zerstörung durch Raketen oder Geschütze) und „Soft Kill“ (Störung durch elektronische Mittel wie GPS-Jamming).
Ein weiteres Problem: Angreifer passen sich rasant an. In der Ukraine setzen beide Seiten inzwischen Drohnen ein, die über Kilometer hinweg Glasfaserkabel mit sich führen – so umgehen sie elektronische Störungen.
Fazit: Ein Wettlauf der Technologien – und der Budgets
Die geplante Drohnenabwehr wird teuer: Schätzungen zufolge könnten dafür Milliardenbeträge notwendig sein. Eine Mischung aus nationalen Haushalten, EU-Mitteln und eingefrorenen russischen Vermögen ist im Gespräch. Experten sind sich einig: Eine 100%ige Sicherheit wird es nicht geben – aber das Ziel sei, die Eintrittsbarriere für Angreifer deutlich zu erhöhen.
„Jede neue Abwehrmaßnahme ruft neue Angriffsmethoden hervor“, so der Sicherheitsexperte Josh Burch. „Es ist ein Wettrennen, das nie vollständig zu gewinnen ist.“
Trotz aller technischen und politischen Hürden bleibt der Konsens in Europa bestehen: Ohne koordinierte Luftverteidigung ist die Bedrohung durch unidentifizierte Drohnen nicht in den Griff zu bekommen.
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