In der bretonischen Stadt Vannes neigt sich ein Prozess dem Ende zu, der eigentlich die französische Öffentlichkeit erschüttern und mobilisieren sollte – doch die große Empörung bleibt aus. Es geht um Joel Le Scouarnec, einen heute 74-jährigen, ehemaligen Chirurgen, der den sexuellen Missbrauch an 299 Personen – fast ausschließlich Kindern – gestanden hat. Ein Justizfall von beispiellosem Ausmaß.
Ein Prozess mit fast 300 Opfern – und kaum öffentlicher Reaktion.
Obwohl Hunderte Journalisten für den Prozess akkreditiert wurden und ein eigenes Amphitheater zur Übertragung eingerichtet wurde, blieb das öffentliche Interesse weit hinter den Erwartungen zurück. Im Vergleich zum medial viel beachteten „Pelicot-Prozess“ im Vorjahr, bei dem es um Serienvergewaltigungen eines Ehemanns an seiner Frau ging, wirkt die Aufmerksamkeit für Le Scouarnec fast beschämend gering.
„Wir fühlen uns unsichtbar“
Opfer wie Manon Lemoine (36) berichten von Erschöpfung, Wut und Enttäuschung. Gemeinsam mit weiteren Betroffenen gründete sie eine Initiative, die eine parlamentarische Aufarbeitung fordert und auf institutionelle Versäumnisse hinweist: „Es ist, als würden wir durch unsere schiere Zahl unkenntlich gemacht.“ Viele Überlebende wagen nun den Schritt in die Öffentlichkeit – in der Hoffnung, dass Frankreich endlich hinschaut.
„Ein systemisches Schweigen“
Die Anwältin Myriam Guedj-Benayoun spricht von einer „organisierten, systemischen Stille“ in Frankreich, wenn es um sexualisierte Gewalt gegen Kinder geht. In ihrer Schlussrede verurteilte sie eine Gesellschaft, in der Männer in angesehenen Berufen – wie die Medizin – oft über jeden Verdacht erhaben seien. Frühere Hinweise, etwa von der US-amerikanischen FBI im Jahr 2004, wurden von französischen Behörden ignoriert.
Grausame Details – schwer erträglich
Während des Prozesses wurde deutlich, wie der Täter seine pädophilen Taten minutiös in Notizbüchern dokumentierte – oft handelte es sich um Kinder unter Narkose, denen er als Chirurg begegnete. Le Scouarnec gab offen zu, sich an lebensechten Kinderpuppen sexuell zu befriedigen und über viele Jahre Missbrauchsvideos konsumiert zu haben.
Folgen für die Opfer – lebenslang
Einige Opfer erinnern sich nicht an die Taten, andere sprechen von tiefgreifenden psychischen und physischen Folgen: Angststörungen, Selbstverletzung, Essstörungen, gestörte Sexualität. Zwei Überlebende haben sich das Leben genommen, bevor es zum Prozess kam.
Ein Wendepunkt – oder ein weiteres Verdrängen?
Trotz der Tragweite des Falls bleibt offen, ob er zu einer gesellschaftlichen oder politischen Aufarbeitung führt. Aktivisten wie Arnaud Gallais (NGO Mouv’Enfants) fordern mehr Engagement und warnen vor einer erneuten Verdrängung: „Wenn wir jetzt nicht handeln, bleibt der Prozess folgenlos.“
Die zentrale Frage am Ende dieses historischen Verfahrens lautet: Wird Frankreich hinschauen – oder wieder wegsehen?
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