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Ein Erbschein ist kein Freifahrtschein für Europa

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Interview mit Rechtsanwältin Kerstin Bontschev, Fachanwältin für Erbrecht, zur aktuellen Entscheidung des OLG Frankfurt

Frage: Frau Bontschev, das OLG Frankfurt hat entschieden, dass trotz eines bereits erteilten deutschen Erbscheins kein Europäisches Nachlasszeugnis ausgestellt werden darf, wenn Einwände eines anderen Beteiligten vorliegen. Überrascht Sie diese Entscheidung?

Kerstin Bontschev: Juristisch gesehen überrascht sie mich nicht, auch wenn sie für Betroffene äußerst frustrierend ist. Das OLG stellt konsequent klar, dass das Europäische Nachlasszeugnis ein besonders sensibler Erbnachweis ist, der grenzüberschreitende Wirkung entfaltet. Gerade deshalb darf es nicht erteilt werden, solange ernsthafte Einwände im Raum stehen, die nicht schnell und eindeutig ausgeräumt werden können.

Frage: Viele Laien gehen davon aus: Wer einen Erbschein hat, ist rechtlich „durch“. Warum greift diese Logik hier nicht?

Kerstin Bontschev: Weil ein Erbschein nur formelle Rechtskraft entfaltet, keine materielle. Das ist ein zentraler Punkt, den viele unterschätzen. Ein Erbschein kann jederzeit eingezogen werden, wenn sich später herausstellt, dass er auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht. Genau das war hier der Fall: Die Testierfähigkeit des Erblassers im Jahr 2001 wurde ernsthaft angezweifelt. Solange diese Frage nicht rechtskräftig geklärt ist, darf es kein Europäisches Nachlasszeugnis geben.

Frage: Was macht das Europäische Nachlasszeugnis so viel „strenger“ als den deutschen Erbschein?

Kerstin Bontschev: Seine Reichweite. Das Europäische Nachlasszeugnis gilt unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten – etwa für Grundbuchumschreibungen oder Verfügungen über Immobilien im Ausland. Wenn sich später herausstellt, dass es zu Unrecht erteilt wurde, ist der Schaden enorm und oft kaum noch zu korrigieren. Deshalb verlangt der Gesetzgeber hier ein besonders hohes Maß an Rechtssicherheit.

Frage: Im konkreten Fall ging es um Immobilien in Polen. Ist das ein typisches Szenario?

Kerstin Bontschev: Absolut. Gerade bei deutsch-polnischen Erbfällen sehe ich das häufig. Immobilien im Ausland sind oft der Auslöser für Anträge auf ein Europäisches Nachlasszeugnis. Viele Erben sind überrascht, dass nationale Verfahren nicht automatisch ausreichen. Das Urteil zeigt deutlich: Wer international vererbt, muss auch international „wasserdicht“ arbeiten.

Frage: Das Gericht sagt: Schon der Einwand eines Beteiligten reicht aus, um das Zeugnis zu blockieren. Öffnet das nicht Missbrauch Tür und Tor?

Kerstin Bontschev: Diese Sorge höre ich oft, sie ist aber nur teilweise berechtigt. Entscheidend ist, dass es sich um substanzielle Einwände handeln muss – hier etwa um die Testierfähigkeit. Bloße Behauptungen ohne greifbaren Kern reichen nicht. Allerdings ist richtig: Das Verfahren kann sich erheblich verzögern. Das ist der Preis für Rechtssicherheit.

Frage: Was raten Sie Erben, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?

Kerstin Bontschev: Erstens: Frühzeitig spezialisierte Beratung einholen – idealerweise von jemandem mit Erfahrung im internationalen Erbrecht. Zweitens: Rechnen Sie mit Widerstand, insbesondere in Patchwork-Familien. Drittens: Klären Sie strittige Punkte – wie Testierfähigkeit – so früh wie möglich, notfalls durch gesonderte Verfahren. Ohne diese Klärung bleibt das Europäische Nachlasszeugnis oft unerreichbar.

Frage: Der Senat hat die Rechtsbeschwerde zugelassen. Hat der Fall grundsätzliche Bedeutung?

Kerstin Bontschev: Ja, eindeutig. Die Frage, ob auch das Beschwerdegericht bei Einwänden zwingend gehindert ist, ein Europäisches Nachlasszeugnis zu erteilen, ist höchst praxisrelevant. Eine Entscheidung des BGH könnte hier dringend benötigte Klarheit schaffen – für Gerichte, Erben und Berater gleichermaßen.

Frage: Ihr Fazit in einem Satz?

Kerstin Bontschev: Ein deutscher Erbschein mag national helfen – für Europa reicht er nicht, wenn auch nur ein ernstzunehmender Zweifel am Erbrecht besteht.

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