Die britische Finanzministerin Rachel Reeves hat bei einer wichtigen Sitzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) offen eingeräumt, dass der Brexit in seiner derzeitigen Form der britischen Wirtschaft nachhaltig geschadet habe. In ihrer Rede vor den weltweit führenden Finanzministern und Zentralbankchefs betonte Reeves, der Austritt Großbritanniens aus der EU im Jahr 2020 habe die ohnehin bestehenden Produktivitätsprobleme des Landes deutlich verschärft.
„Brexit hat Produktivität geschwächt“
Reeves erklärte:
„Die Produktivitätsherausforderungen des Vereinigten Königreichs wurden durch die Art und Weise, wie wir die Europäische Union verlassen haben, weiter verschärft.“
Sie verwies dabei auf Berechnungen des Office for Budget Responsibility (OBR), wonach die britische Wirtschaft langfristig um rund vier Prozent kleiner sei, als sie es bei einem Verbleib in der EU gewesen wäre. Diese Einschätzung sei innerhalb der Regierung inzwischen allgemein anerkannt, so Reeves.
Die Finanzministerin betonte, dass das Vereinigte Königreich deshalb verstärkt nach engeren Handelsbeziehungen mit wichtigen Partnern suche – insbesondere mit den EU-Staaten, aber auch mit aufstrebenden Volkswirtschaften weltweit.
Kehrtwende in der Brexit-Rhetorik
Bemerkenswert ist, dass Reeves und die Labour-Regierung damit einen deutlichen Tonwechsel vollziehen. Lange Zeit hatte Labour – aus politischer Rücksicht auf Brexit-Befürworter – vermieden, offen über die wirtschaftlichen Nachteile des EU-Austritts zu sprechen.
Doch seit dem Parteitag im vergangenen Monat äußern sich Regierungsmitglieder zunehmend kritisch über die wirtschaftlichen Folgen des Brexit-Deals, der 2020 unter der konservativen Regierung von Boris Johnson ausgehandelt wurde.
Ein neues Verhältnis zur EU
Im Mai dieses Jahres hatte die Labour-Regierung eine Vereinbarung zur „Neuausrichtung“ der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU angekündigt. Ziel sei es, Handelshemmnisse abzubauen und die Zusammenarbeit in strategischen Bereichen wie Verteidigung, Landwirtschaft und Technologie zu stärken.
Die Regierung plant unter anderem, Post-Brexit-Kontrollen auf Lebensmittel- und Agrarimporte weitgehend abzuschaffen und britischen Herstellern die Teilnahme an europäischen Industriekonsortien zu ermöglichen – etwa im Rahmen gemeinsamer Verteidigungsprojekte.
Thema wird Schlüsselpunkt vor dem Herbst-Budget
Reeves’ Aussagen kommen kurz vor der Vorstellung des Haushaltsplans am 26. November, in dem eine Herabstufung der langfristigen Wachstumsprognose erwartet wird. Die OBR soll darin detailliert darlegen, welche Faktoren für die schwache Produktivität verantwortlich sind – und der Brexit dürfte eine zentrale Rolle spielen.
Die Regierung bereitet zudem neue fiskalische Maßnahmen vor, um die Lücken in den Staatsfinanzen zu schließen. Beobachter rechnen mit weiteren Steuererhöhungen als Teil eines umfassenden Konsolidierungsplans.
Langfristige Folgen: Weniger Investitionen, schwächerer Warenhandel
Unabhängige Ökonomen sehen in den wirtschaftlichen Problemen des Landes eine direkte Folge des Brexit:
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Rückgang der Investitionen durch jahrelange Unsicherheit nach dem Referendum 2016
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Schwäche im Warenhandel, insbesondere mit EU-Staaten
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Verlagerung von Arbeitsplätzen und Produktionsketten auf den europäischen Kontinent
Gleichzeitig verweisen einige Experten auf positive Entwicklungen im Dienstleistungssektor und neue Handelsabkommen außerhalb Europas. Dennoch bleibt der Gesamteffekt für die britische Wirtschaft negativ.
Politische Fronten verhärten sich
Während Labour auf eine Korrektur des Brexit-Kurses setzt, versuchen die Konservativen, daraus politischen Nutzen zu ziehen. Auf ihrem Parteitag kündigten sie an, bei einem Wahlsieg die öffentlichen Ausgaben um 47 Milliarden Pfund jährlich zu senken, vor allem durch Kürzungen bei Sozialleistungen, der Verwaltung und der Entwicklungshilfe.
Damit ist die wirtschaftliche Bilanz des Brexit erneut zu einem zentralen Streitpunkt der britischen Politik geworden – und dürfte den Ton für die kommenden Haushaltsdebatten wie auch für den nächsten Wahlkampf entscheidend prägen.
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