ADHS gilt längst nicht mehr nur als „Kinderkrankheit“. Immer mehr Erwachsene erhalten erstmals die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – ein Trend, der sich in den vergangenen Jahren deutlich beschleunigt hat. Nach aktuellen Auswertungen, über die das Deutsche Ärzteblatt berichtet, hat sich die Zahl der Erstdiagnosen innerhalb von zehn Jahren nahezu verdreifacht. Im vergangenen Jahr wurden rund 25,7 von 10.000 Einwohnern erstmals mit ADHS diagnostiziert, während es vor etwa einem Jahrzehnt lediglich 8,6 pro 10.000 waren.
Dieser starke Anstieg markiert einen tiefgreifenden Wandel im medizinischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Störung. Jahrzehntelang wurde ADHS fast ausschließlich mit auffälligem Verhalten bei Kindern in Verbindung gebracht. Erwachsene, die unter Konzentrationsproblemen, innerer Unruhe, Impulsivität oder chronischer Überforderung litten, fielen häufig durchs Raster. Ihre Schwierigkeiten wurden eher als Stress, Burn-out, Depression oder persönliche Unzulänglichkeiten interpretiert.
Inzwischen hat sich das Verständnis deutlich erweitert. Fachleute sehen den Hauptgrund für die steigenden Diagnosen in einem gewachsenen Bewusstsein – sowohl bei Ärztinnen und Ärzten als auch in der Bevölkerung. ADHS bei Erwachsenen ist besser erforscht, wird häufiger thematisiert und seltener tabuisiert. Zudem sind die diagnostischen Kriterien differenzierter geworden und berücksichtigen, dass sich die Symptome im Laufe des Lebens verändern können. Hyperaktivität tritt bei Erwachsenen oft in den Hintergrund, während Probleme mit Aufmerksamkeit, Organisation und Emotionsregulation dominieren.
Auch die Corona-Pandemie gilt als möglicher Verstärker dieses Trends. Die außergewöhnlichen Belastungen durch Lockdowns, Homeoffice, soziale Isolation und Zukunftsängste haben bei vielen Menschen psychische Schwächen offengelegt oder verschärft. Gerade in einer Zeit, in der Selbststrukturierung und Konzentration besonders gefordert waren, wurden ADHS-typische Probleme für Betroffene und ihr Umfeld sichtbarer. In der Folge suchten mehr Erwachsene gezielt professionelle Hilfe.
Experten betonen jedoch, dass der Anstieg der Diagnosen nicht automatisch bedeutet, dass ADHS heute häufiger vorkommt als früher. Vielmehr sprechen die Zahlen dafür, dass die Störung lange Zeit deutlich unterdiagnostiziert war. Viele Betroffene haben Jahrzehnte ohne Erklärung für ihre Schwierigkeiten gelebt – mit negativen Folgen für Beruf, Beziehungen und Selbstwertgefühl.
Für die Betroffenen selbst ist die späte Diagnose oft ein Wendepunkt. Zwar kann sie zunächst verunsichern, doch viele empfinden sie vor allem als Erleichterung. Endlich gibt es einen Namen für die eigenen Probleme – und vor allem konkrete Hilfsangebote. Psychotherapeutische Unterstützung, Coaching, strukturierende Maßnahmen im Alltag und gegebenenfalls Medikamente können die Lebensqualität spürbar verbessern.
Der Trend zeigt insgesamt: Psychische Gesundheit und neurobiologische Besonderheiten rücken stärker in den gesellschaftlichen Fokus. ADHS bei Erwachsenen wird zunehmend als ernstzunehmende, lebensbegleitende Störung anerkannt – und nicht mehr als Randthema. Die steigenden Diagnosen sind damit weniger ein Zeichen für eine „Modekrankheit“, sondern vielmehr Ausdruck eines überfälligen Umdenkens in Medizin und Gesellschaft.
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