Stricken und Häkeln galten lange als ruhige, fast meditative Hobbys. Doch spätestens seit Influencerinnen, Podcasts und Social-Media-Plattformen wie TikTok den Trend befeuern, hat sich die Szene verändert. Wer einmal im Algorithmus von #knittok oder #knittube landet, findet längst nicht mehr nur Anleitungen und Wolltests – sondern hitzige Debatten über kulturelle Aneignung, Geschlechterrollen, politische Deutungshoheit und handfeste Shitstorms.
Der Auslöser: „Game of Wool“ und Tom Daley
Jüngster Aufreger ist die britische TV-Show Game of Wool, deren letzte Folge am Sonntag ausgestrahlt wurde. Moderiert wird das Format von Tom Daley, Olympiamedaillengewinner im Turmspringen – und längst auch Pop-Ikone der Strickszene. Daley ist bekannt dafür, bei Sportgroßereignissen öffentlich zu stricken und häkeln; bei den Olympischen Spielen in Paris fertigte er in den Pausen sogar einen ganzen Pullover an.
Was als charmante Mischung aus Handwerk und Unterhaltung gedacht war, schlug jedoch rasch hohe Wellen. Bereits die erste Folge der Show wurde zum Thema einer Parlamentssitzung in Schottland. Aufgabe der Kandidaten war es, einen Pullunder im Fair-Isle-Stil zu stricken – einer traditionellen, mehrfarbigen Technik von den Shetland-Inseln.
Fair-Isle-Gate: Handwerk oder kulturelle Aneignung?
Für Teile der Community war das Maß damit überschritten. In sozialen Netzwerken, aber auch in britischen Medien wie dem The Guardian, machten empörte Stimmen ihrem Ärger Luft. Die Umsetzung der filigranen Technik mit grober Wolle sei „ungeheuerlich“, die Zeitvorgabe von zwölf Stunden „realitätsfern“. Vor allem aber wurde der Vorwurf der kulturellen Aneignung laut: Fair Isle Knitting sei ein schützenswertes Kulturerbe der Shetlands, das nicht beliebig für Unterhaltungsshows vereinnahmt werden dürfe. Sogar ein Antrag auf EU-Schutz für die Technik wird inzwischen diskutiert.
Der nächste Streit: Mansplaining und Strickphysik
Doch der Konflikt um Fair Isle war nur der jüngste Höhepunkt. Zuvor hatte #knittok bereits eine andere Kontroverse beschäftigt: der Auftritt des Science-Youtubers Hank Green, der in einem Video auf dem Kanal „SciShow“ die Physik des Strickens erklären wollte – für ein Millionenpublikum.
Was folgte, war eine Welle an Reaction-Videos und Kritik. Greens Erklärungen seien fehlerhaft, oberflächlich und wirkten, als habe niemand aus dem Team je eine Stricknadel in der Hand gehabt. Schwerer wog jedoch der Vorwurf des Mansplainings: Ein traditionell weiblich konnotiertes Handwerk werde erst dann ernst genommen, wenn ein Mann es mit wissenschaftlicher Autorität erkläre – und damit vermeintlich „aufwerte“.
Von Wolle zu Weltanschauung
Die Strickszene ist damit zu einem Spiegel größerer gesellschaftlicher Debatten geworden. Fragen nach kultureller Identität, Geschlechterrollen und Machtverhältnissen werden an Maschen, Nadeln und Wollknäueln verhandelt. Selbst Ironie und Meme-Kultur machen nicht halt: Begriffe wie „schwule Schafe“, politische Strickmuster oder bewusst provokante Designs kursieren als Kommentare zum Kulturkampf.
Ein Hobby verliert seine Unschuld
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass auch scheinbar harmlose Freizeitbeschäftigungen nicht außerhalb gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stehen. Stricken ist längst mehr als ein Handwerk – es ist Projektionsfläche für Identität, Politik und Zugehörigkeit.
Ob diese Entwicklung der Szene langfristig mehr Sichtbarkeit und Vielfalt bringt oder sie weiter spaltet, ist offen. Sicher ist nur: Die Strickwelt hat sich fest in die Wolle gekriegt – und ein Ende der Debatten ist nicht in Sicht.
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