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Leseschwäche in Österreich nimmt zu – Soziale Herkunft als entscheidender Faktor

BiancaVanDijk (CC0), Pixabay
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Fast ein Drittel der Erwachsenen in Österreich hat Schwierigkeiten beim Lesen – und die Kluft wächst weiter. Das zeigen die neuesten Detailauswertungen der internationalen PIAAC-Erhebung der OECD, die am Freitag vorgestellt wurden. Besonders alarmierend: Der Bildungsstand der Eltern spielt eine zunehmend zentrale Rolle bei der späteren Lesekompetenz. Wer aus bildungsfernen Haushalten stammt, hat es deutlich schwerer – selbst dann, wenn andere Fördermaßnahmen greifen.

Jeder Dritte betroffen

Die Zahlen sind deutlich: 29 Prozent der Erwachsenen im Alter von 16 bis 65 Jahren haben Probleme beim sinnerfassenden Lesen – fast doppelt so viele wie bei der letzten Erhebung im Jahr 2011. Damit liegt Österreich unter dem OECD-Schnitt von 30 teilnehmenden Ländern und hat sich seit 2011 von einer Position über dem Durchschnitt deutlich verschlechtert.

Bereits Ende 2024 hatte die OECD die Kernergebnisse veröffentlicht. Nun liefert die Statistik Austria tiefere Einblicke in die Ursachen – mit ernüchternden Ergebnissen. Die individuelle Lesekompetenz hängt stärker als je zuvor von sozialen Faktoren ab.

Bildung vererbt sich

Am deutlichsten wirkt sich der eigene Bildungsweg aus: Wer eine Matura besitzt, hat laut Analyse den größten Vorteil (Effektwert 0,37). Fast gleichauf folgt aber schon der Bildungsgrad der Eltern – mit einem Effektwert von 0,32, der seit 2011 deutlich gestiegen ist. Zum Vergleich: Damals lag dieser Einfluss noch bei 0,24.

Die Wahl der Schulform in der Sekundarstufe I – etwa Mittelschule oder AHS-Unterstufe – hat ebenfalls einen signifikanten Einfluss (0,28). Andere Faktoren wie die Erstsprache oder der Besuch eines Kindergartens spielen ebenfalls eine Rolle, jedoch mit deutlich geringerem Gewicht.

„Die soziale Herkunft wird wichtiger“, resümierte Statistik-Austria-Experte Eduard Stöger auf einer Fachkonferenz. Zwar könne der Besuch von Kindergärten und eine höhere Bildungslaufbahn die Chancen verbessern, bestehende Unterschiede würden dadurch jedoch kaum ausgeglichen.

Ein wachsendes Problem

In absoluten Zahlen bedeutet das: Die Zahl jener Menschen in Österreich, die Texte nicht sinnerfassend lesen können, ist seit 2011 von etwa einer Million auf rund 1,7 Millionen gestiegen – ein Anstieg um 70 Prozent. Die Arbeiterkammer (AK) sieht darin ein gesellschaftliches Warnsignal.

„Lesekompetenz ist der Schlüssel zu Selbstbestimmung und Teilhabe“, erklärte Ilkim Erdost, Bereichsleiterin Bildung der AK Wien. Ohne die Fähigkeit, Informationen zu verstehen und einzuordnen, bleibe echte Mitbestimmung im Privaten wie im Politischen vielen verwehrt. Sie fordert deshalb den gezielten Ausbau von Programmen zur Erwachsenenbildung, mehr niederschwellige Angebote und ein stärkeres politisches Bekenntnis zur Förderung von Grundkompetenzen.

Was tun gegen die Lesekrise?

Die Diskussion über geeignete Gegenmaßnahmen ist allerdings umstritten. Manche Expert*innen fordern ein stärkeres Eingreifen bereits im frühkindlichen Bereich, etwa durch verpflichtende Sprachförderung im Kindergarten. Andere sehen die Verantwortung verstärkt beim Schulsystem, das soziale Unterschiede zu wenig abfedert. Zudem wird kritisiert, dass Erwachsenenbildung nach wie vor nicht den Stellenwert in der Bildungsstrategie hat, den sie angesichts der Zahlen bräuchte.

Fest steht: Der Trend geht in eine besorgniserregende Richtung – und wenn Bildungschancen immer stärker von der Herkunft abhängen, gerät ein zentrales Versprechen moderner Gesellschaften ins Wanken. Die Forderung nach flächendeckender Förderung von Grundkompetenzen ist damit mehr als eine bildungspolitische Aufgabe – sie ist ein demokratischer Imperativ.

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