Erstmals in Großbritannien sehen sich die Folgen des Klimawandels in einem Gerichtssaal verhandelt: Überlebende eines verheerenden Taifuns auf den Philippinen haben eine Klage gegen den Öl- und Gaskonzern Shell eingereicht. Die Betroffenen machen das Unternehmen mitverantwortlich für die Intensität und Zerstörungskraft des Sturms und fordern Entschädigung für erlittene Schäden. Juristen sprechen von einem möglichen Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen für die fossile Industrie.
Im Zentrum der Klage steht der Taifun Rai, der auf den Philippinen als Odette bekannt ist. Der Sturm traf das Land kurz vor Weihnachten 2021 und gilt als der stärkste Taifun des Jahres. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 270 Kilometern pro Stunde zerstörte er ganze Landstriche, riss Häuser mit sich und ließ Strom- sowie Kommunikationsnetze zusammenbrechen. Rund 400 Menschen kamen ums Leben, Millionen Häuser wurden beschädigt oder zerstört, Hunderttausende verloren ihre Existenzgrundlage.
Insgesamt 103 Überlebende haben nun gemeinsam Klage gegen Shell vor britischen Gerichten eingereicht. Sie argumentieren, dass der Konzern über Jahrzehnte hinweg erheblich zur globalen Erderwärmung beigetragen habe, indem er fossile Brennstoffe förderte, verarbeitete und verkaufte. Diese Emissionen hätten den Klimawandel beschleunigt und damit Extremwetterereignisse wie Taifun Rai wahrscheinlicher und zerstörerischer gemacht. Shell trage daher eine Mitverantwortung für Tod, Vertreibung und massive Sachschäden.
Eine der Klägerinnen ist die Fischverkäuferin Trixy Elle von der Insel Batasan. Sie schilderte, wie sie und ihre Familie während des Taifuns um ihr Leben kämpften. „Wir mussten mitten durch hohe Wellen, starken Regen und heftige Winde schwimmen“, berichtete sie. Ihr Vater habe in der ausweglosen Situation gesagt, sie sollten sich an den Händen halten – ob sie überleben oder gemeinsam sterben würden. Ihr Haus wurde zerstört, ihre Lebensgrundlage vernichtet.
Shell weist die Vorwürfe entschieden zurück. Das Unternehmen bezeichnete die Klage als „haltlos“. Insbesondere widerspricht der Konzern der Darstellung, er habe über ein besonderes oder exklusives Wissen darüber verfügt, dass CO₂-Emissionen den Klimawandel antreiben. Der Klimawandel sei ein globales Phänomen, das nicht einem einzelnen Unternehmen zugeschrieben werden könne. Zudem verweist Shell darauf, dass Regierungen für Klimapolitik und Schutzmaßnahmen verantwortlich seien.
Rechtlich betritt der Fall Neuland. Zwar gibt es weltweit eine wachsende Zahl von Klimaklagen gegen Staaten und Unternehmen, doch bislang richteten sich diese häufig auf Emissionsziele, Transparenzpflichten oder zukünftige Klimastrategien. Dass konkrete Opfer eines Extremwetterereignisses nun Schadenersatz einklagen, ist neu – zumindest vor britischen Gerichten und gegenüber einem großen Öl- und Gaskonzern.
Experten sehen darin einen möglichen Wendepunkt in der Debatte um Klimagerechtigkeit. Sollten die Gerichte die Klage zulassen, könnte dies weitere Verfahren nach sich ziehen, auch gegen andere Konzerne der fossilen Industrie. Unternehmen könnten künftig stärker dafür haftbar gemacht werden, welche globalen Folgen ihre Geschäftsmodelle haben – selbst dann, wenn die Schäden tausende Kilometer entfernt auftreten.
Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zeigt die Klage, wie sehr sich die juristische Auseinandersetzung um den Klimawandel verschärft. Für die Kläger geht es dabei nicht nur um Geld, sondern um Anerkennung und Verantwortung. Für die fossile Industrie könnte der Fall zu einem Warnsignal werden, dass Klimafolgen zunehmend auch vor Gericht eingefordert werden.
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