Im Südkorea der 1960er Jahre war Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich weitgehend akzeptiert – ein Zustand, der sich im Fall einer jungen Frau dramatisch widerspiegelte. Mit 18 Jahren wurde sie zur Täterin erklärt, weil sie sich gegen einen mutmaßlichen Vergewaltiger zur Wehr setzte. Heute, mit 78 Jahren, kämpft sie darum, ihren Namen reinzuwaschen – und den Weg für Gerechtigkeit für andere Betroffene zu ebnen.
Im Jahr 1964 wurde sie von einem Mann auf der Straße angesprochen und zu Boden gestoßen. Als er versuchte, sie sexuell zu bedrängen, wehrte sie sich instinktiv – und biss ihm ein Stück der Zunge ab. Statt als Opfer anerkannt zu werden, wurde sie wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Der Täter hingegen erhielt nur eine milde Strafe wegen Hausfriedensbruchs und Bedrohung.
Die Staatsanwaltschaft ignorierte ihre Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung. Stattdessen wurde ihr vorgeworfen, übermäßige Gewalt angewendet zu haben – ein Vorwurf, der bis heute in juristischen Lehrbüchern als Beispiel für „unverhältnismäßige Selbstverteidigung“ aufgeführt wird. Dabei wurde sie laut eigener Aussage sogar zu einem Jungfräulichkeitstest gezwungen – dessen Ergebnis öffentlich gemacht wurde.
Erst Jahrzehnte später wagte sie den Schritt, einen Wiederaufnahmeprozess zu fordern. Zunächst abgewiesen, gelang es ihr mithilfe feministischer Gruppen wie der Korea Women’s Hot-Line, genug öffentlichen Druck aufzubauen, um den Obersten Gerichtshof zu einer neuen Bewertung zu bewegen. Im Dezember 2024 urteilte dieser, ihre Aussagen seien glaubwürdig und der Fall müsse erneut vor Gericht verhandelt werden.
Der Fall steht sinnbildlich für eine patriarchal geprägte Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt lange tabuisiert wurde. Bis in die 1980er Jahre existierte in Südkorea nicht einmal ein Begriff für häusliche Gewalt. Frauen wurden traditionell als Unterstützerinnen der Männerrolle gesehen, nicht als eigenständige Subjekte mit Rechten. Erst mit dem Aufkommen feministischer Bewegungen – und inspiriert durch das weltweite #MeToo – wuchs das öffentliche Bewusstsein für sexuelle Gewalt und die Verantwortung des Staates zum Schutz von Opfern.
Der nun anstehende Wiederaufnahmeprozess könnte einen Präzedenzfall schaffen: Er könnte den rechtlichen Rahmen für Notwehr neu definieren und Opfern von sexueller Gewalt künftig mehr Handlungsspielraum zugestehen. Aktivistinnen sehen in diesem Fall eine Chance, die juristische Bewertung von Selbstverteidigung grundlegend zu verändern.
Der Fall der heute 78-jährigen Frau zeigt, wie weit der Weg zu Gerechtigkeit sein kann – besonders für Frauen, deren Stimmen in der Vergangenheit ignoriert wurden. Doch ihre Ausdauer und der gesellschaftliche Wandel lassen hoffen, dass künftige Opfer nicht mehr schweigen müssen. „Jede Generation von Frauen verdient mehr Gerechtigkeit“, sagte sie in einer Erklärung – und steht damit für einen Wandel, der längst überfällig ist.
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