Kann Alzheimer jemals heilbar sein – oder ist das eine Illusion?
Um dieser Frage näher zu kommen, wurde ich eingeladen, eine Operation am offenen Gehirn mitzuerleben – direkt an der vordersten Front der Demenzforschung.
Ich befinde mich im OP-Saal des Royal Infirmary in Edinburgh, gekleidet in grüne OP-Kleidung, Mundschutz und Haube. Trotz der Vielzahl an Geräten, die piepen und pumpen, herrscht eine konzentrierte, fast meditative Stille unter dem medizinischen Team.
Der Patient liegt sediert auf dem Operationstisch. Auf den Bildschirmen über uns ist deutlich ein heller weißer Tumor im MRT zu erkennen. Der Krebs hatte ursprünglich im Darm begonnen und war bis tief ins Gehirn vorgedrungen.
„Er liegt nicht an der Oberfläche“, erklärt Professor Paul Brennan, Neurochirurg, „wir müssen ein Loch in den Kortex machen – so klein wie möglich, aber groß genug, um zum Tumor zu gelangen.“
Der Kortex ist die äußere Schicht des Gehirns, zuständig für Sprache, Gedächtnis und Denken. Um zum weichen Inneren des Gehirns vorzudringen, muss er durchtrennt werden. Brennan entfernt mithilfe einer chirurgischen Bohrmaschine ein Stück Schädelknochen. Das nun freigelegte Gehirn pulsiert leicht im Rhythmus des Herzschlags.
Ein einzigartiges Geschenk für die Forschung
Neben mir steht Dr. Claire Durrant, Alzheimer-Forscherin an der Universität Edinburgh. In ihren Händen hält sie einen Behälter mit eiskalter, künstlicher Gehirnflüssigkeit – eine Lösung, die die natürliche Umgebung des Hirns imitiert.
Normalerweise würde der entnommene Teil des Kortex nach der Operation entsorgt. Doch in Edinburgh wird dieses Gewebe, mit Zustimmung der Patient:innen, für die Forschung genutzt – eine von wenigen Einrichtungen weltweit, die mit lebendem menschlichem Hirngewebe arbeiten.
Als der Moment kommt, geht alles sehr schnell: Ein fingernagelgroßes Stück Hirn wird entnommen und in den Behälter gelegt.
Während wir wenig später quer durch die Stadt zur Universität fahren, wird mir bewusst: Vor wenigen Minuten war dieses Stück Gehirn noch Teil eines bewussten Menschen – seiner Ängste, seiner Gedanken.
„Ich bin mir bei jedem Stück bewusst, dass es ein Geschenk ist – meist an einem der schwersten Tage im Leben dieser Person“, sagt Dr. Durrant.
Alzheimer im Labor verstehen – Scheibchen für Scheibchen
In ihrem Labor beginnt das Forscherteam sofort mit der Aufbereitung des Gewebes. Zuerst wird es in Gel eingebettet, dann in hauchdünne Scheiben geschnitten – dünner als ein menschliches Haar – und in speziellen Brutkästen gelagert, um es „am Leben“ zu halten.
Anschließend wird das Gewebe gezielt mit den toxischen Proteinen Amyloid und Tau konfrontiert – jenen Eiweißen, die sich bei Alzheimer im Gehirn anreichern und dort Nervenzellen schädigen.
So lässt sich erstmals direkt beobachten, wie Synapsen – die Verbindungen zwischen Nervenzellen – zerstört werden. Und vielleicht bald auch: wie man diesen Prozess stoppen kann.
„Ich habe noch nie so viel Hoffnung in der Alzheimer-Forschung gespürt wie jetzt“, sagt Dr. Durrant, die als Dyson-Stipendiatin bei der Initiative Race Against Dementia forscht. „Alles, was wir bisher sehen, spricht dafür, dass Alzheimer eine Krankheit ist – und Krankheiten kann man heilen.“
Durchbruch ja – aber noch nicht für alle
Zwei neue Medikamente, Lecanemab und Donanemab, bremsen den Krankheitsverlauf von Alzheimer – eine große wissenschaftliche Errungenschaft. Doch ihr tatsächlicher Nutzen im Alltag der Betroffenen ist umstritten. Sie sind teuer, schwer zugänglich – und werden derzeit vom britischen Gesundheitssystem NHS nicht übernommen.
Trotzdem sieht Prof. Tara Spires-Jones, Leiterin des Zentrums für Hirnforschung an der Universität Edinburgh, darin einen Durchbruch: „Diese Medikamente haben die Tür geöffnet.“
Sie forscht an sogenannten Astrozyten – sternförmigen Immunzellen im Gehirn – und deren Rolle bei Alzheimer. Längst ist klar: Es braucht mehr als nur einen Ansatz. Alzheimer entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel aus Eiweißablagerungen, Entzündungen, Genetik, Blutgefäßen und Umweltfaktoren.
Drei Etappen der Hoffnung
Für Prof. Spires-Jones gibt es drei entscheidende Schritte auf dem Weg zur Heilung:
- Kurzfristig: Medikamente, die den Krankheitsverlauf spürbar verlangsamen oder stoppen.
- Mittelfristig: Strategien zur vollständigen Vorbeugung.
- Langfristig: Eine Heilung für Menschen, die bereits Symptome haben – was jedoch die größte Herausforderung bleibt.
Sie ist überzeugt, dass wir in fünf bis zehn Jahren Medikamente haben könnten, die das Leben der Betroffenen wirklich verändern – sofern die Krankheit früh genug erkannt wird.
Doch so optimistisch die Wissenschaft auch sein mag: Der Weg zur Heilung führt durch viele weitere Forschungsjahre und klinische Studien.
„Das menschliche Gehirn ist unglaublich komplex“, sagt Spires-Jones. „Wir müssen die Wirkung in echten Menschen sehen.“
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