Mitten in der winterlichen Morgenfrische verlässt der Baltic Express die tschechische Hauptstadt Prag. Während die Sonne langsam aufgeht, gleitet die mittelalterliche Stadt wie ein Filmtrailer am Zugfenster vorbei. Von den bequemen Sitzplätzen in den privaten Abteilen aus eröffnet sich der Blick auf barocke Schlösser und weitläufige Boulevards – die „Paris des Ostens“, die weitgehend unberührt von der NS-Besatzung und den sozialistischen Planungen des 20. Jahrhunderts geblieben ist.
Eine neue Verbindung durch Mitteleuropa
Die kürzlich eingeführte Bahnverbindung von Prag zur polnischen Ostsee-Stadt Gdynia verkehrt viermal täglich und erschließt Reisenden einige der lebendigsten und weniger überlaufenen Städte Mitteleuropas. Die 878 km lange Strecke bietet eine Mischung aus Städtereisen, ländlichen Entdeckungen und Erholung am Meer – eine Kombination, die zuvor umständlich zu erreichen war.
Doch der Name „Baltic Express“ täuscht. Diese Verbindung ist keine der neuen „Flugzeugkiller“-Routen wie London–Amsterdam oder Istanbul–Ankara, die geschaffen wurden, um mit Billigflügen zu konkurrieren. Die Fahrt dauert acht Stunden und gleicht einer historischen Rundreise durch das Herz Mitteleuropas, vorbei an Städten wie Gdansk und Poznan. Das Beste: Reisende können flexibel ein- und aussteigen, um die faszinierenden Orte entlang der Route zu entdecken.
Startpunkt Prag: Eine Kathedrale des Bahnverkehrs
Mein eigenes Abenteuer beginnt am Prager Hauptbahnhof (Hlavní Nádraží), einem architektonischen Meisterwerk aus der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Der Bahnhof wurde 1871 erbaut, als das Habsburgerreich ein dichtes Schienennetz errichtete, um Handel und Sicherheit in Wien zu bündeln.
Die Haupthalle des Bahnhofs, geprägt durch sozialistische Architektur, kontrastiert mit der eleganten Jugendstil-Wartelounge eine Etage darüber, wo sich verzierte Kuppeln und polierte Messinggeländer befinden. Dort hat 2024 das edle Foyer Café eröffnet, das tschechischen Riesling und französisches Gebäck serviert – ein stilvoller Start für meine Zugreise.
Unterwegs durch Tschechien: Erster Halt Pardubice
Nach nur einer Stunde im Zug steige ich in Pardubice aus, einer Stadt mit rund 100.000 Einwohnern. Ihr historischer Marktplatz erinnert an Prag, doch die Atmosphäre ist ruhiger. Die pastellfarbenen Stadthäuser und gotischen Kirchtürme könnten ebenso in Sarajevo, Brno oder Lviv stehen – ein Relikt der gemeinsamen kaiserlichen Vergangenheit.
Pardubice ist auch die Geburtsstadt des tschechischen Flugpioniers Jan Kašpar, der 1911 als erster Tscheche nach Prag flog – entlang der heutigen Bahnstrecke. Seitdem stehen Luftfahrt und Eisenbahn in ständigem Wettbewerb.
Grenzübertritt nach Polen: Eine neue Verbindung für Reisende
Zurück im Zug, steigt die Landschaft langsam an. Eichenwälder, Wildhirsche und gefrorene Flüsse ziehen vorbei. Später folgen dichte Kiefernwälder und Jagdhütten. Es gibt keine Grenzkontrollen mehr, nur ein kurzes Signal in den Mobiltelefonen der Passagiere zeigt an, dass wir Polen erreicht haben.
In meinem Abteil sitzt Marta Kortas, eine Datenanalystin aus Gdansk. „Dieser Zug hat eine neue Verbindung für mich geschaffen,“ erzählt sie. „Jetzt kann ich Freunde in Prag und Südpolen besuchen, ohne fliegen zu müssen.“
Wroclaw: Eine Stadt mit deutscher Vergangenheit
Gegen 20:00 Uhr erreiche ich Wroclaw, die drittgrößte Stadt Polens. Vor 1945 war sie als Breslau bekannt und ein Zentrum des Deutschen Reiches. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben sich Polens Grenzen nach Westen, und die Stadt wurde polnisch.
Der imposante Bahnhof Wroclaw Glowny, einst von einem preußischen Architekten entworfen, trägt Spuren dieser bewegten Geschichte. Die direkte Bahnverbindung nach Berlin besteht noch immer – über Gleise, die vor mehr als einem Jahrhundert von deutschen Ingenieuren verlegt wurden.
Poznan: Ein Märchen aus Stein
Am nächsten Morgen, nach einer weiteren Etappe, erreiche ich Poznan, eine der Kulturhauptstädte Polens. Ihr Marktplatz wirkt wie aus einem Disney-Film, mit bunten Häusern und einer prachtvollen Basilika, deren kunstvolle Decke an ein Fabergé-Ei erinnert.
Die Stadt hat eine bewegte Vergangenheit: Die Nazis nutzten die Basilika als Lagerhalle, die nach dem Krieg aufwendig restauriert wurde. Ein weiteres Wahrzeichen ist die Stary Browar Brauerei, einst stillgelegt unter sowjetischer Herrschaft, heute ein pulsierendes Einkaufs- und Kulturzentrum.
Endstation Gdansk: Polens Tor zur Welt
Nach dem Mittagessen beginnt die letzte Etappe nach Gdansk, wo mich eine vertraute Stimme begrüßt – der Schaffner vom Vortag. Der Baltic Express beginnt sich wie ein Zuhause anzufühlen.
Im Speisewagen duftet es nach polnischen Gołąbki (gefüllten Kohlrouladen) und Kürbisgerste mit Grünkohl. Der Kellner serviert Łomża-Bier, während draußen das Landschaftsbild flacher wird. Möwen kreisen über der Küste – ein Zeichen, dass wir die Ostsee erreichen.
Gdansk, seit sieben Jahrhunderten ein bedeutender Hafen, war einst Mitglied der Hanseatischen Liga. Der imposante Bahnhof, entworfen von deutschen Architekten, spiegelt diesen internationalen Einfluss wider. In der Stadt gibt es zahlreiche historische Stätten, darunter das Museum des Zweiten Weltkriegs, das an die ersten Schüsse des Krieges erinnert, und das Europäische Solidaritätszentrum, das die Rolle der Werftarbeiter bei der Überwindung des Kommunismus würdigt.
Fazit: Ein Zug für Abenteurer und Geschichtsliebhaber
Der Baltic Express ist mehr als eine Zugverbindung – er ist eine Reise durch die Geschichte Mitteleuropas. Die Strecke wurde von Österreichern, Deutschen und Polen gebaut und verbindet kulturelle Schätze mit moderner Reisefreiheit.
Ob für ein Wochenendabenteuer oder eine große Rundreise – dieser Zug bietet eine perfekte Mischung aus Komfort, Geschichte und Entdeckungen. Wer Europa wirklich erleben möchte, sollte sich dieses einzigartige Bahnabenteuer nicht entgehen lassen. 🚆
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