Die geplante Reform des Bürgergeldes sorgt für wachsende Spannungen zwischen Politik, Sozialverbänden und Gewerkschaften. Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsorganisationen, Gewerkschaften und Sozialinitiativen hat in einem offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten eindringlich vor den Folgen der geplanten Gesetzesänderung gewarnt. Der zentrale Vorwurf: Die Reform drohe, Menschen in existenzielle Not zu treiben – bis hin zum Verlust der Wohnung.
Im Fokus der Kritik steht eine geplante Verschärfung der Sanktionen für Bürgergeld-Beziehende. Nach dem Entwurf der Bundesregierung sollen künftig bei Pflichtverstößen, etwa bei der Ablehnung von Jobangeboten oder dem Nichterscheinen zu Terminen, die Kosten der Unterkunft vollständig gestrichen werden können. Für die Verbände wäre das ein gefährlicher Rückschritt.
„Wer Menschen die Wohnung entzieht, treibt sie unweigerlich in die Obdachlosigkeit“, heißt es in dem Schreiben, das unter anderem von Paritätischem Wohlfahrtsverband, Diakonie, Caritas, Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und Tafel Deutschland unterzeichnet wurde.
Warnung vor sozialer Destabilisierung
Die Organisationen appellieren an die Abgeordneten, das Gesetz in dieser Form nicht zu verabschieden. Eine Streichung der Unterkunftskosten könne nicht nur den Verlust des Zuhauses bedeuten, sondern auch die Chancen auf Wiedereingliederung in Arbeit drastisch verschlechtern. „Wer auf der Straße landet, kann keine Bewerbungen schreiben“, heißt es weiter.
Der Paritätische Gesamtverband sprach in diesem Zusammenhang von einem „gefährlichen Paradigmenwechsel“: Weg von sozialer Unterstützung – hin zu einem System der Strafe und Einschüchterung. Statt Druck brauche es individuelle Hilfsangebote, Schulungen und psychologische Betreuung, so der Verband.
Regierung verteidigt Entwurf
Das Bundesarbeitsministerium verteidigt die geplante Reform dagegen als „notwendige Anpassung zur Stärkung der Eigenverantwortung“. Ziel sei es, Fehlanreize zu vermeiden und „die Leistungsbereitschaft zu erhöhen“. Vertreter der Koalitionsparteien betonen, dass die Streichung der Unterkunftskosten nur in extremen Fällen und nach mehrmaligen Pflichtverletzungen greifen solle.
Doch viele Experten halten diese Einschränkung für nicht ausreichend. „Schon eine einmalige Streichung kann existenzvernichtend wirken“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Dr. Jana Henning. Besonders gefährdet seien Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose mit ohnehin instabiler Wohnsituation.
Obdachlosigkeit als wachsendes Problem
Deutschlandweit steigt die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz seit Jahren an. Laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) waren im Jahr 2024 rund 607.000 Menschen wohnungslos – Tendenz steigend. Das Bündnis warnt, dass die Reform diese Entwicklung massiv beschleunigen könnte.
„Es ist paradox: Während Städte über zu wenig bezahlbaren Wohnraum klagen, riskiert die Politik, noch mehr Menschen auf die Straße zu setzen“, kritisierte die Präsidentin der Diakonie, Ulrike Wössner.
Forderung nach Kurskorrektur
Das Bündnis fordert stattdessen eine sozial ausgewogene Reform, die Menschen motiviert statt bestraft. Dazu gehören unter anderem bessere Qualifizierungsangebote, vereinfachte Verwaltungswege und ein Ausbau der psychosozialen Betreuung.
Die Bundestagsabgeordneten sollen das Gesetz in der kommenden Woche in erster Lesung beraten. Ob die Regierung ihren Kurs angesichts des massiven Widerstands aus der Zivilgesellschaft beibehält, ist offen. Klar ist jedoch: Die Debatte um das Bürgergeld hat sich längst von einer bloßen Verwaltungsfrage zu einer Grundsatzdiskussion über soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde entwickelt.
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