Ein Sportgigant bringt ein Dirndl – und halb München diskutiert: Ist das noch Wiesn oder schon Werbefläche? Das neue Adidas-Dirndl polarisiert, weil es zwei Welten zusammenstößt: Brauchtum und Branding. Einordnungsversuch zwischen Modegeschichte, Kulturdebatte und Marketing-Strategie.
Was da wirklich hängt: Design, Details, Statement
Das Adidas-Dirndl kommt als Zweiteiler in Schwarz oder Weiß: Kleid mit Ärmeln, dazu Schürze. Dominant sind die drei Streifen am Oberteil und das wiederholte Trefoil-Logo – selbst der Reißverschluss markiert Markenpräsenz. Styling-Empfehlung des Herstellers: Sneaker und Sportsocken (natürlich mit Logo). Wer das trägt, sendet kein „leises“ Wiesn-Signal; es ist bewusst laut, fast ironisch. Genau deshalb entzündet sich die Debatte.
„Verhunzen“ oder Verhandeln von Identität?
Traditionalisten werten den Entwurf als Respektlosigkeit: Tracht sei kein Merchandise. In Kommentarspalten schwingt der Vorwurf mit, Kultur werde zur Ware. Befürworter kontern: Die Wiesn sei seit jeher ein Laufsteg zwischen Brauch und Kommerz – vom Maßkrug bis zur Designer-Schürze. Und: Wenn Mode ständig aufgreift, bricht und neu deutet – warum nicht auch Tracht?
Ein kurzer Realitätscheck: So „heilig“ ist das Dirndl historisch nicht
Das Dirndl ist kein mittelalterliches Relikt. Modehistorikerin Simone Egger verortet seine Popularisierung im 19. Jahrhundert: zunächst städtische Arbeits- und Sommerkleidung, später ins Oberland re-importiert, dort ritualisiert – mit Mieder, Kette, Regeln. Heißt: Tracht war immer schon Mode und Milieu-Zeichen. Der Sprung zur Sportästhetik ist radikal – aber nicht unlogisch in einer Kultur, die Traditionscodes modisch verhandelt.
Logomania vs. Quiet Luxury – und warum Adidas bewusst übertreibt
Die flächig platzierte Marke zitiert die „Logomania“ der 2000er/2010er: Louis Vuitton, Gucci & Co. machten das Logo zum Luxus. Seither gilt „Quiet Luxury“ als Gegenpol – teure Stoffe, minimale Signatur. Das Adidas-Dirndl schlägt demonstrativ die laute Seite auf. Warum? Weil auf der Wiesn Sichtbarkeit zählt. Markenlogik: Wer auffällt, gewinnt Gesprächshoheit – und Social-Reach.
Zielgruppe: Ironisch, urban, content-getrieben
Adressiert werden nicht die Trachtenpuristen, sondern Großstadt- und Digital-Publikum: Menschen, die Trends spielerisch tragen, Memes verstehen, Reaktionen provozieren – ein Kleid als Content-Device. Auf der Wiesn verschafft das Aufmerksamkeit, in Feeds Reichweite. Dass Größen schnell ausverkauft sind, zeigt: Die Idee trifft einen Nerv – Zustimmung oder Widerspruch.
„Kulturelle Aneignung“ – greift der Begriff hier?
Der Vorwurf kursiert, ist hier aber unscharf. Es geht weniger um das Ausbeuten fremder Minderheitenkultur als um das Re-Codieren regionaler Zeichen durch einen globalen Konzern. Streitpunkt ist weniger „Aneignung“ als Kommodifizierung: Wem „gehört“ das Symbol – der Region, der Szene, dem Markt? Und wer definiert korrektes Tragen – Verbände, Wirte, Community?
Wiesn-Praxis: Kommt man damit überhaupt rein?
Die Wiesn hat keinen einheitlichen harten Dresscode. Viele kommen in Tracht, andere nicht. Einzelne Zelte pflegen Standards, entscheidend sind meist Gesamteindruck und Respekt vor dem Anlass (ordentlich, nicht kostümhaft-provokant). Ein sportliches Dirndl ist kein Ticketverweigerer per se – aber es sendet eine klare Botschaft: Stil-Experiment statt Traditionsabsolutismus.
Stil-Guide: Wenn schon Logo-Dirndl, dann „smart styled“
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Schuhe: Schlichte Sneaker oder Trachtenschuhe; klobige Chunkys wirken schnell nach „Karneval“.
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Strümpfe: Uni, ohne Riesen-Branding – Ruhepol im Look.
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Accessoires: Reduziert. Eine zarte Kette statt XXL-Statement; kleine Trachtenanleihe (Charivari light) okay.
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Schürzenschleife: Traditionell gilt: rechts = vergeben, links = ledig, hinten = verwitwet/Service. Wer bricht, sollte es bewusst tun – und damit leben, dass es Gespräche auslöst.
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Make-up/Hair: Modern-clean statt Kostüm; geflochtene Elemente funktionieren, wenn nicht zu folkloristisch.
Pro & Kontra – die nüchterne Abwägung
Pluspunkte
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Bringt frischen Diskurs in eine oft formelhaft gewordene Trachtenästhetik.
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Sichtbarkeit für jüngeres, urbanes Publikum; senkt Einstiegshürden („Tracht, aber anders“).
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Zeigt, dass Tradition verhandelbar bleibt – Zeichen leben von Nutzung.
Minuspunkte
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Verwässert für viele den Symbolgehalt von Tracht; wirkt wie „Wiesn als Werbefläche“.
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Risiko des „Kostümhaften“: Wenn der Look nur Gag ist, kippt die Würde des Anlasses.
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Logomania kann schnell altern – was heute edgy ist, wirkt morgen datiert.
Was diese Debatte wirklich erzählt
Nicht das Kleid ist der Skandal, sondern die Frage dahinter: Wer definiert Kultur? Auf der Wiesn kreuzen sich Heimatgefühl, Geschäftsmodell, Tourismus und Pop. Das Adidas-Dirndl legt den Finger genau in diese Überlagerung. Für Traditionalisten ist es ein Grenzübertritt, für andere ein Fortschreiben lebendiger Kultur. Beide Seiten legitim – solange der Ton respektvoll bleibt.
Fazit: Kein Ende der Wiesn, sondern ein Spiegel
Das Adidas-Dirndl ist kein „Endgegner“ der Tracht, sondern ein Spiegel: von Kommerz, Kreativität und Konflikten, die das Fest seit jeher begleiten. Am Ende entscheidet der Kontext: Wie wird es getragen? Warum? Mit welcher Haltung? Wer die Codes kennt – und bewusst bricht – macht die Debatte produktiv. Wer nur provoziert, bedient Klischees.
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