991 Seiten umfasst der Bericht, der die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Über Jahre hinweg wurden in SOS-Kinderdörfern weltweit Kinder nicht nur im Stich gelassen, sondern teilweise missbraucht – in Einrichtungen, die eigentlich Schutz und Geborgenheit versprechen sollten. Nun will SOS-Kinderdorf International dieses erschütternde Dokument an die Staatsanwaltschaft Wien übergeben. Bisher lag es unter Verschluss. Zu schwer? Zu schmerzhaft?
„Es ist ein wichtiger Schritt, um unser Bekenntnis zu Transparenz und Rechenschaftspflicht zu demonstrieren“, heißt es nun von offizieller Seite. Doch warum erst jetzt? Und warum mussten Betroffene so lange auf Gehör warten?
Die unabhängige Untersuchungskommission, die 2023 vom Dachverband beauftragt wurde, hat zwei Berichte vorgelegt – einen kürzeren und eine umfassende Langfassung. Letztere benennt Namen, erhebt schwere Vorwürfe, belastet unter anderem auch den ehemaligen Präsidenten Helmut Kutin.
Kutin – einst gefeierter Nachfolger von Hermann Gmeiner, Träger des Rings des Landes Tirol – soll einem als gefährlich bekannten Großspender den Kontakt zu Kindern in Nepal ermöglicht haben. Ein Mann, der dort bereits Kinder missbraucht hatte. Die Ermittlungen gegen Kutin wurden nach seinem Tod eingestellt. Und mit seinem Tod verstummte auch ein Teil der Aufarbeitung – wieder einmal.
Und was ist mit den deutschen SOS-Kinderdörfern?
Warum hören wir so wenig über mögliche Untersuchungen in Deutschland? Gibt es ähnliche Fälle? Gab es Aufarbeitung? Haben Betroffene eine Stimme? Oder schweigen hier wieder Mauern aus Papier, aus Ehre, aus Angst vor Spendenverlust?
SOS-Kinderdorf Österreich hatte nach eigenen Angaben nur zeitlich begrenzten Einblick in einen Ausschnitt des Berichts – jenen, der sich mit dem Fall um den Großspender beschäftigt. Die vollständige Einsicht blieb verwehrt.
Wie viele Kinder mussten schweigen, wie viele wurden nicht gehört?
Und wie viele Menschen – ob mit Orden geehrt oder nicht – wussten davon?
Es geht nicht um Einzelfälle. Es geht um Strukturen, um systemisches Wegsehen, um Verantwortung – auch unsere. Gerade in Organisationen, die sich „Kinderdorf“ nennen, ist jedes Versagen doppelt schmerzhaft. Denn es verrät die, die ohnehin schon zu oft verraten wurden: Kinder, die niemanden hatten. Kinder, denen man versprach, dass es diesmal anders wird.
Was sagen die Verantwortlichen in Deutschland? Wo bleibt hier die Aufklärung?
Und vor allem: Wo bleibt die Entschuldigung – nicht auf dem Papier, sondern im Handeln?
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